Nach dem Tod der Elfjährigen steht die Frage im Mittelpunkt, warum zwei Drogensüchtige die Obhut über Pflegekinder bekommen konnten.

Wilhelmsburg. Vielleicht hielt Chantal die Tabletten für ein Kopfschmerzmittel. Oder für ein anderes harmloses Medikament. Genau weiß noch niemand, wie der tödliche Heroin-Ersatzstoff Methadon in den Körper des elfjährigen Mädchens gelangen konnte. "Diese zentrale Frage konnte bisher noch nicht geklärt werden", sagte Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers gestern dem Abendblatt.

Fest steht dagegen, dass Chantals Pflegeeltern, denen das Jugendamt am Mittwoch die beiden zehn und 16 Jahre alten leiblichen Kinder sowie das verbliebene Pflegekind weggenommen hat, drogenabhängig sind. Die 47-jährige Mutter und ihr 51 Jahre alter Mann werden von ihrem Hausarzt beide mit Methadon behandelt. Laut Staatsanwaltschaft befindet sich die Mutter offenbar seit zwei bis drei Jahren im Methadon-Programm, ihr Mann seit "mehreren Jahren".

Dass beide auf den Heroin-Ersatzstoff angewiesen sind, kam erst ans Licht, nachdem Ermittler in der Garage des Paares Methadon-Tabletten sichergestellt hatten. Am frühen Mittwochmorgen hatten 30 Beamte und ein Staatsanwalt die Wilhelmsburger Wohnung der Pflegeeltern an der Fährstraße, die Arbeitsstelle des Vaters und die Wohnung der ältesten Tochter durchsucht. Bei der 27-jährigen Tochter wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft weder Drogen noch Medikamente gefunden. Bei den Pflegeeltern hingegen entdeckte die Polizei neben dem Methadon auch eine Vielzahl an Medikamenten. "Auch Flaschen mit unbekannten Flüssigkeiten wurden sichergestellt", sagte Möllers. Diese werden zurzeit untersucht. Da die drogensüchtigen Eltern über Methadon verfügten, bleiben sie im Fokus der Ermittlungen.

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Aber: "Gegen die Pflegeeltern besteht bislang kein dringender Tatverdacht", sagte Möllers. Zudem liege auch noch kein endgültiger Obduktionsbericht vor. Der Leichnam von Chantal befindet sich nach wie vor im Institut für Rechtsmedizin. Warum zwei Drogensüchtigen die Obhut von zwei Pflegekindern anvertraut wurde, bleibt unbeantwortet. "Unsere Mitarbeiter hatten keine Erkenntnisse darüber, dass die Pflegeeltern Drogen konsumiert haben oder in einem Methadon-Programm waren", sagte Holger Stuhlmann, der Sozialdezernent des Bezirksamts Harburg. 2005 habe das Paar dem Amt mitgeteilt, dass ihre einjährige Enkelin bei ihnen lebe, weil die Tochter sich nicht um das Mädchen kümmern könne. "Sie wollten deshalb das Pflegegeld für die Enkelin beantragen", sagte Stuhlmann. Das Jugendamt habe sich daraufhin die familiären und häuslichen Bedingungen der Großeltern angesehen. "Es hat nichts gegen eine Pflege gesprochen."

Jedoch seien die Kriterien bei einem Paar, bei dem grundsätzlich geprüft wird, ob es als Pflegefamilie geeignet ist, wesentlich härter als bei Großeltern, bei denen das Enkelkind bereits wohnt. Nach zwei Jahren übergab das Bezirksamt Harburg die Beratung und Begleitung der Familie dem freien Träger VSE, dem Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen. "Bevor Chantal 2008 als weiteres Pflegekind in die Familie kam, hatten wir die Akte bereits an das Bezirksamt Mitte übergeben", sagte der Sozialdezernent. Denn: Seit März 2008 gehört der Stadtteil Wilhelmsburg zum Bezirk Mitte.

Dass die heute Elfjährige in die Pflegefamilie kam, war jedoch die Entscheidung des VSE. Der Verein der Jugendhilfe, der vom Jugendamt des Bezirks Mitte mit der Begleitung von Pflegefamilien beauftragt ist, hielt das Paar offensichtlich für geeignet. Dass er das Kind Drogensüchtigen anvertraute, war dem zuständigen Sozialpädagogen offenbar nicht bewusst. "Wir sind dabei, den Fall intern zu prüfen", sagte VSE-Geschäftsführer Olaf Jänicke gestern. Warum nicht eher bemerkt wurde, in welch katastrophalem Haushalt das Mädchen lebte, konnte er nicht sagen.

Der VSE hat sowohl mit dem Bezirksamt Mitte als auch Harburg einen Kooperationsvertrag. "Insgesamt haben wir zwei Mitarbeiter, die für die Beratung und Begleitung von Pflegefamilien in Hamburg zuständig sind", sagte Jänicke. Auch mit den Mitarbeitern würden derzeit Gespräche geführt. "Wir sind tieftraurig über den Tod des Mädchens und werden alles tun, um die Umstände aufzuklären."

Eine schnelle und lückenlose Aufklärung - die fordern auch Markus Schreiber (SPD), Leiter des Bezirksamts Mitte, und Kommunalpolitiker, die in der gestrigen Bezirksversammlung Einsicht in alle Akten zum Fall Chantal beantragten. In der Sitzung meldete sich auch Bezirkschef Schreiber zu Wort und sprach über das "tragische Ereignis". Er frage sich, warum niemand etwas von der Drogenabhängigkeit der Eltern gewusst habe. "Solchen Familien dürfen keine Pflegekinder anvertraut werden", sagte er. "Was hat der VSE dort eigentlich geprüft?"

Unterdessen hat Schreiber die Jugendamts-Leiterin beauftragt, bis zum Dienstag die Abläufe im Jugendamt und beim Träger VSE umfassend zu dokumentieren. Darüber hinaus wollte sich Schreiber gestern nicht öffentlich äußern. "Wir wollen zunächst einen umfassenden Bericht vorliegen haben, um uns einen kompletten Überblick verschaffen zu können", sagte Bezirksamtsprecher Lars Schmidt-von Koss.

Dass Chantal bei Drogenabhängigen untergebracht war, stößt auf scharfe Kritik. "Das ist ein krasser Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht des Jugendamtes", sagte Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe. Nach den Fällen Jessica im Jahre 2005 und der verhungerten Lara Mia 2009 sei der Tod von Chantal nun ein weiteres Beispiel von "eklatantem Versagen des Jugendhilfesystems in Hamburg". Ehrmann: "Ohne verbindlich geltende Standards und eine regelmäßige Überprüfung der Pflegefamilien werden Kinder in Pflegefamilien weiter zu Schaden kommen."

Auch der Vorsitzende des Sozialverbands in Hamburg, Klaus Wicher, fordert strengere Regeln. "Wenn Kinder Pflegeeltern anvertraut werden, dann müssen diese Werte vorleben." Es könne nicht sein, dass Menschen eine Pflicht aufgelastet wird, die psychisch labil oder sozial nicht gefestigt seien.

Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) äußerte sich gestern Abend zum ersten Mal zum Fall Chantal. Er sagte in einem Gespräch mit Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider im Kultwerk West auf St. Pauli vor 70 Zuhörern: "Wen von uns beschäftigt das nicht?" Es sei eine der schlimmsten Nachrichten, wenn ein Kind auf diese Art ums Leben komme. Scholz: "Wir dürfen nicht achselzuckend zur Normalität zurückkehren. Wir müssen uns ganz klar mit der Frage beschäftigen, wie die Entscheidung zustande kommt, dass Kinder in Pflegefamilien eingewiesen werden. Wir müssen mit größter Sorgfalt Regeln aufstellen, über die wir uns alle einig ist."