Der Tod der elfjährigen Chantal ist eine Tragödie - und ein Skandal

Die Tragödie beginnt mit einer richtigen Entscheidung. Das Jugendamt beschließt 2008, dass die achtjährige Chantal nicht länger in ihrem Elternhaus bleiben kann. Die Mutter, eine Alkoholikerin, war kurz zuvor gestorben; der Vater ist drogensüchtig. Das Mädchen soll raus aus diesen prekären Verhältnissen. Das Amt will das tun, wozu es gesetzlich verpflichtet ist: das Kindeswohl schützen. Chantal soll in eine Pflegefamilie. Das neue Zuhause ist schnell gefunden: ein Ehepaar mit vier Kindern, das bereits ein Pflegekind betreut. Dreieinhalb Jahre später ist Chantal tot. Sie stirbt an einer Überdosis Methadon. Weil niemand bemerkt hat, dass ihre Pflegeeltern drogenabhängig sind. Aus der Tragödie ist ein Skandal geworden.

Hamburg wird jetzt erneut eine Diskussion über staatliches Versagen führen müssen. So wie 2005, als in Jenfeld die siebenjährige Jessica in ihrem Kinderzimmer verhungerte, während ihre Eltern in der Kneipe saßen. So wie 2009, als in Wilhelmsburg die neun Monate alte Lara Mia stark unterernährt starb, obwohl die Familie intensiv vom Jugendamt betreut wurde.

Nach beiden Todesfällen wurden umfassende Konsequenzen gefordert - und gezogen. Doch heute müssen wir ernüchtert feststellen: Es hat nicht gereicht. Und so stellt sich die Frage: Kann es überhaupt ein System geben, das alle Kinder in dieser Stadt wirksam schützt? Oder müssen wir uns an tote Kinder gewöhnen?

Ein perfektes System wird in der Tat niemand schaffen können, auch nicht mit noch so viel Aufwand. Chantals Tod aber war vermeidbar, er hätte vermieden werden müssen. Sie musste sterben, weil es ein mehrfaches, kollektives Versagen der Hamburger Behörden und dem beteiligten Jugendhilfeverein gab.

Die genauen Umstände des Todes sind nach wie vor unklar. Doch Fakt ist, dass Chantal die tödliche Dosis in der Wohnung der Pflegeeltern eingenommen hat. Fakt ist, dass dort Methadon-Tabletten aufbewahrt wurden. Fakt ist, dass beide Elternteile seit Jahren drogensüchtig und im Methadonprogramm sind. Und Fakt ist, dass kein Sozialarbeiter davon etwas mitbekommen haben will. Es sind unerträgliche Fakten.

2005 gingen die Eltern selbst zum Jugendamt Harburg, weil sie ihr Enkelkind bei sich aufgenommen hatten - ihre Tochter sah sich außerstande, die damals Dreijährige zu erziehen. Den Großeltern wurde das Pflegegeld bewilligt. Das Jugendamt hielt die Pflegeeltern für geeignet.

2007 übernahm der Verband Sozialtherapeutischer Einrichtungen, kurz VSE, die Betreuung. Er hielt die Pflegeeltern für geeignet. 2008 gab der VSE Chantal in ihre Obhut - Verein und Jugendamt hielten die Pflegeeltern für geeignet. Mindestens fünf verschiedene Mitarbeiter des Jugendamtes Mitte befassten sich mit der Familie, doch niemand hatte Bedenken. Waren sie alle blind? Überfordert? Überlastet?

Welche Konsequenzen aus Chantals Tod zu ziehen sind, kann erst dann seriös entschieden werden, wenn alle Umstände dieses Dramas bekannt sind. Das Prinzip, weite Teile dieses so sensiblen Bereichs der Jugendhilfe an sogenannte freie Träger wie den Verband Sozialtherapeutischer Einrichtungen oder das Rauhe Haus zu überantworten, wird dabei infrage gestellt werden müssen. Und ja: Ein besseres System wird im Zweifel auch ein teureres sein.

Jessica, Lara Mia, Chantal. Diese Namensliste darf keine Fortsetzung finden.