Irmgard von Studnitz (95) lebt und kämpft seit 30 Jahren in und um ihr Quartier. Bei vielen jungen Menschen vermisst sie Engagement.

Hamburg. Wenn Irmgard von Studnitz über das Schanzenviertel spricht, hat das schon seine Richtigkeit. Schließlich wohnt die alte Dame schon seit fast 30 Jahren in dem Quartier, das in Hamburg immer dann für Schlagzeilen sorgt, wenn sich Krawallmacher und Polizisten erbitterte Gefechte liefern. Sie steht dann oben auf ihrem Balkon im 2. Stock an der Lerchenstraße und beobachtet das "Katz-und-Maus-Spiel". Und wenn sie davon erzählt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie wäre ganz gerne noch da unten auf der Straße mittenmang dabei.

Irmgard von Studnitz ist 95 Jahre alt. Sie hat wache Augen, die aber nicht mehr so gut sehen. Und einen blitzgescheiten Verstand, der ihr klugerweise das Grübeln untersagt hat. Das Grübeln über das Älterwerden zum Beispiel. "Dazu bin ich zu oberflächlich", sagt sie und macht sich keinerlei Gedanken über verwelkende Schönheit, zunehmende Gebrechen oder gar den Tod. Das Leben ist ja auch viel interessanter. Sie braucht zwar wegen ihrer Augen jetzt immer jemanden, der mit ihr losgeht und ihren "sozialen Tick" erträgt, aber dann kann es sein, dass sie in der Schanze auf vier junge Ausländer zugeht und jeden Einzelnen fragt, wo er denn herkomme. "Die sind doch dankbar, wenn man sie anspricht", sagt Irmgard von Studnitz.

Dabei hätte sie ja viel mehr zu erzählen. Jedes Jahrzehnt ein eigenes Buch. 1914 in Kiel geboren, Vater bei der Marine, die Mutter aus der Plangemühlen-Dynastie. In Hamburg an der Elbchaussee aufgewachsen. "Wir waren reich, aber nicht verwöhnt." Privatschule, "nicht mal Abitur gemacht", in die Schweiz geschickt, um Französisch zu lernen. Ausgebildet bei Lola Rogge als Lehrerin für tänzerische Gymnastik. 1937 heiratete sie einen Adligen, "der sah blendend aus, wir waren einige Jahre glücklich". Die drei Kinder, die heute 71, 68 und 63 Jahre alt sind, hat sie alleine großgezogen.

Nach der Scheidung begann "ein neuer Abschnitt". Sie verkaufte Fotos aus dem Ausland an die Springer-Zeitungen oder den "Stern" ("ein Titelfoto brachte 1000 Mark, davon bekam ich zehn Prozent") und vertrieb Krankenhausartikel in Norddeutschland. Längst war aus dem schüchternen Mädchen eine selbstbewusste Kämpferin geworden, die sich 1980 den Grauen Panthern anschloss. Sie machten Missstände in Krankenhäusern öffentlich, besetzten Pflegeheime und erreichten die Abschaffung von Sechs-Bett-Zimmern. "Irm" war bei den Brokdorf-Demos dabei, engagierte sich im Kampf um die Häuser in der Hafenstraße.

Heute vermisst sie bei vielen jungen Leuten das Engagement. Viele kämen nur noch in die Schanze, um sich "in die Cafés zu setzen und zu glotzen". Von denen "kommt nichts, das sind Fremdkörper, die versperren uns nur die Wege". Und sie machten manchmal nicht mal mehr Platz, wenn Ältere ihnen auf den Gehwegen entgegenkämen. Wenn dazu noch kleine Läden wegen der hohernMieten nach und nach verschwinden und mit ihnen das persönliche Gespräch, dann "stimmt etwas nicht". Dann müsse man sich gegen die Entwicklung wehren. Laut und vernehmlich. Deswegen ist sie eine der älteren Bewohner, die in einer Ausstellung ihren "wachsenden Groll über die wachsende Stadt" demonstrieren. Und darüber sprechen. So am Sonntag ab 15.30 Uhr auf dem "Wandernden Sofa" mit Martina Schmidt im Kirchgarten der Johanniskirche an der Max-Brauer-Allee.