Am 13. September 1709 beschloss der Senat, das Leben ausgesetzter Babys zu schützem - mit einer Drehlade, in die Kinder hineingelegt werden können.

Hamburg. Das Leben war nicht einfach im Hamburg des beginnenden 18. Jahrhunderts. Die Hansestadt hatte eine Reihe großer Kirchen, die Zeugnis von der Gottesfurcht ihrer Bürger ablegten. Und es gab prächtige Häuser, die vom Erfolg der hanseatischen Kaufleute kündeten. Aber von den knapp 100 000 Einwohnern lebten auch 4000 Menschen in absoluter Armut. Und viele kleine Handwerker, die keinesfalls zu den armen, aber auch nicht zu den reichen Bürgern zählten, lebten in den Gängevierteln unter unwürdigen hygienischen Zuständen. Um Sitte und Moral war es in diesem Milieu schlecht bestellt.

Mit seinem Beschluss vom13. September 1709 wollte der Hamburger Senat ein Übel bekämpfen, das den streng christlichen Ratsherren schwer auf dem Gewissen lastete. Immer wieder legten Mütter Neugeborene, von denen sie nicht wussten, wie sie sie ernähren sollten, vor fremden Türen ab und verschwanden im Dunkel der Nacht. Oder sie töteten die Kinder sogar. Oft waren diese Mütter junge Mädchen aus einfachen Verhältnissen vom Lande, die eigentlich als Dienstmädchen in der Hansestadt Geld verdienen wollten, aber den Verführungskünsten oder dem mehr oder weniger stark ausgeübten Druck ihrer Arbeitsgeber erlegen waren. Nun sollten solche Kinder anonym in fremde Obhut gegeben werden können.

Die Senatsentscheidung hatte der aus den Niederlanden stammende Hamburger Bürger und wohlhabende Kaufmann Jobst von Overbeck angeregt. Beeinflusst hatte er die Zustimmung des Rates, indem er aus seinem Vermögen 50 000 Mark banco, der damals in Hamburg üblichen Währung, zur Verfügung stellte, damit die Kinder versorgt werden konnten.

Nachdem der Senat zugestimmt hatte, ließ Overbeck am Hamburger Waisenhaus einen Kasten anbringen, dessen offene Seite nach innen gedreht werden konnte. In ihn konnten die Mütter ihr Neugeborenes legen und es mit einer Drehung in die Obhut von Pflegerinnen geben. Damit diese im Waisenhaus erfuhren, dass wieder ein Baby in der Klappe lag, gab es einen Glockenzug, der sie alarmierte.

Dieses alte Waisenhaus war schon um 1600 auf dem Gelände der alten Kapelle "Maria tom Schor" errichtet worden. Die Bezeichnung Schor bedeutet so viel wie Ufer. Im englischen Wort shore ist es ebenfalls enthalten. Die Geschichte, wie das Waisenhaus errichtet wurde, gehört zu den alten Hamburger Sagen. Demnach stand dort in einer Nische an der Stadtmauer ein von Seeleuten verehrtes Marienstandbild, an dem sie Schutz für ihre Reisen erbaten. Später errichtete man dort die Kapelle.

Mit der Reformation verlor sie allerdings an Bedeutung, 1538 machte der Senat daraus einen Lagerraum für Waffen der Stadtwache und später sogar für Getreide. Fortan soll es an dieser Stelle gespukt haben. Aus der ehemaligen Kapelle erklang Heulen und Wehklagen. Gläubige Hanseaten glaubten zu wissen, woran es lag: Die Seelen der Mönche, die so lange die kleine Kapelle unterhalten hatten, klagten über die neue, frevelhafte Nutzung.

Die Stimmung in der Bevölkerung setzte den Senat so unter Druck, dass er beschloss, auf dem geweihten Grund ein Waisenhaus einzurichten, um ihn für einen guten Zweck zu nutzen. Die Straße "Zum Alten Waisenhause" gibt es noch heute, sie verbindet die Admiralitätsstraße mit der Herrlichkeit. Das Waisenhaus, das den Namen gab, wurde bis 1785 genutzt, danach diente es als Schul- und Arbeitshaus der Armenanstalt.

Aber zurück zur Babyklappe, die damals noch nach der Drehbewegung "Torno" genannt wurde. Hamburg war keineswegs die einzige Stadt, die eine solche Einrichtung unterhielt. Die Einrichtung soll auf Papst Innozenz III. zurückgehen, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts verfügte, dass an den Pforten der damals besonders in den romanischen Ländern zahlreichen Findelhäuser sogenannte Drehladen angebracht wurden. Beim Vatikanischen Hospital Santo Spirito ist noch heute eine solche alte Babyklappe erkennbar. Das von der Zunft der Seidenweber im 14. Jahrhundert gestiftete Findelhaus "Ospedale degli Innocenti" in Florenz besitzt ebenfalls immer noch einen drehbaren Holzzylinder, über den noch bis 1875 Säuglinge anonym abgegeben werden konnten.

Auch in mittelalterlichen Klöstern fanden sich solche Drehladen, mit denen Mütter ihre Kinder von der Außenseite der Klostermauer unerkannt in das Klosterinnere bringen und damit Nonnen anvertrauen konnten. Über dem Hamburger Torno am Waisenhaus hing eine hölzerne Tafel mit der Aufschrift:

Auf dass der Kindermord nicht künftig werd verübet,

Der von tyrannscher Hand der Mutter oft geschicht,

Die gleichsam Molochs Wuth ihr Kindlein übergiebet,

Ist dieser Torno hier auf ewig aufgericht.

Anno 1709

Geistliche kündeten von der neuen Einrichtung in der Hansestadt bei ihren sonntäglichen Predigten von den Kanzeln. Mit einem ungeahnten Erfolg. Sogar aus der weiteren Umgebung Hamburgs strömten Frauen herbei, um Kinder dort im Schutz der Anonymität abzugeben. Es war aber nicht nur Lieblosigkeit, sondern manchmal einfach Verzweiflung. Die Mütter waren nicht in der Lage, ihre Kinder zu ernähren und wollten ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen.

Deshalb wohl wurden im Schutz der Anonymität nicht nur Neugeborene, sondern sogar ein- bis zweijährige Kinder in den Kasten gezwängt.

Zur Abwehr ließ der Senat zunächst eine kleinere Klappe einbauen, um diesem Missbrauch einen Riegel vorzuschieben. Doch trotz allem gab es im April 1710, ein gutes halbes Jahr nach der Eröffnung der Klappe, bereits mehr als 200 sogenannte Tornokinder.

Eine Abtreibung war in Hamburg eine riskante Angelegenheit. Denn der Senat hatte festgelegt, "wer einem Weibs-Bilde durch Arzney, Essen oder Trinken ein lebendig Kind abtreibt ... wer auch einen Mann oder ein Weib unfruchtbar macht ... soll mit dem Tode durch das Schwert, und die Frau, so sie es an sich selber täte, ertränkt oder sonst zu Tode gestraft werden."

Die Pfleger im Waisenhause konnten den Ansturm nicht mehr bewältigen und riefen den Senat um Hilfe an. Der erließ umgehend Mandate gegen den Missbrauch, sie brachten jedoch keine Besserung.

In seiner Ratlosigkeit machte der Senat nun Overbeck also denjenigen verantwortlich, der die Idee überhaupt erst nach Hamburg gebracht hatte. Er solle eine Bürgschaft zur Übernahme der gestiegenen Kosten leisten. Man einigte sich nach einigen heftigen Streitereien auf einen Vergleich, und der Kaufmann stiftete weitere 50 000 Mark banco, unter der Bedingung, dass diese Summe nach seinem Tod als Stiftung zu nutzen sei.

Trotz allem musste die Drehlade im Oktober 1714 wieder abgebaut werden, weil sonst der Bestand des gesamten Waisenhauses gefährdet gewesen wäre. Doch es brachte kaum Erleichterung. Im Gegenteil, nun wurden viele Kinder einfach vor den Türen Hamburger Bürger abgelegt, die mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus den Ruf hatten, besonders kinderfreundlich zu sein. Es waren zwischen 80 und 150 Findelkinder pro Jahr. Wieder musste der Senat ein Gesetz erlassen, in dem es hieß, dass jeder sich "heim- und gefährlicher Hinlegung der Kinder enthalten möge, im widrigen Falle aber zu gegenwärtigen habe, daß er zur gefänglichen Haft gebracht, fiscalisch angeklaget und nach Befinden an Leib und Leben bestraft werden solle".

Der Zusammenhang der Kindesaussetzungen mit der Armut in der Region ist unverkennbar: Erst als Hamburg im Jahr 1788 eine Armenanstalt errichtete, die mit dem Armeninstitut, einem freiwilligen Verband von Ärzten, vereint war, konnte der Schutz nicht ehelicher Kinder in geordnete Bahnen gelenkt werden.