Durchhalten ist alles. Und alle, die das geschafft haben, sind echte Siegertypen

Sternschanze. Die Beine sind schwer wie Blei, die Sohlen scheinen am Asphalt zu kleben, und der innere Schweinehund kläfft erbärmlich. Doch eingangs der Glacischaussee, das Ziel vor Augen, mobilisiert der Wille die letzten Kräfte. "Halt durch!", brüllen die Zuschauer an den Absperrgittern. "Kämpfen!" Rasseln rattern, Trompeten dröhnen, Trommeln scheppern.

"Jaaaa!" Mit einem Urschrei passiert Thomas Koch die Markierung. Er reißt beide Arme in die Höhe. Für den Sieg über sich selbst gibt es eine Goldmedaille. Sie wird inbrünstig geküsst. Noch ein Schrei. Keiner guckt. Alles absolut normal an einem Tag, der viele Helden gebärt. Geschafft! Um zwei Minuten hat Koch sein persönliches Ziel von fünf Stunden unterboten. Jetzt nichts wie ran an die Wasserquelle und an Obstbeutel, die helfende Hände reichen. Abseits warten fünf Kumpels der Kölner Laufgemeinschaft. Jubelnd fallen sich die Männer in die Arme. Ein königliches Gefühl.

Auch für den promovierten Agrarwissenschaftler hat sich die Anreise gelohnt. Koch, der den Kölner Marathon mitorganisiert, ist Weltenbummler in Sachen laufender Mammutstrapazen. Boston, New York, Honolulu, Peking oder Kapstadt, überall war der Entwicklungshelfer am Ende vorne. Sprich: Er gab nicht auf. Dass er vor zehn Jahren eineinhalb Stunden schneller lief, interessiert nicht. Entscheidend ist das Glücksgefühl.

Kaum einer weiß dieses köstliche Erfolgserlebnis intensiver zu genießen als Inessa Lentfer aus Bergedorf bei ihrer Marathon-Premiere. Hand in Hand mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Janina passiert die 20-Jährige nach 3:46 Stunden das Ziel. "Sister act" haben sich die beiden Medizinstudentinnen auf ihre Schultern geschrieben. Beider Beine sind salzverkrustet: ehrbare Spuren des Schweißes. "Zuerst in Eppendorf, dann drei Kilometer vor dem Ziel hatte ich einen schweren Durchhänger", berichtet Inessa. Wie gut, dass die Eltern, der Bruder, Nachbarn und Kommilitonen an der Strecke Spalier standen und den Schwestern lautstark Beine machten. Und als die Jüngere am Schluss partout nicht mehr konnte, hielt sie die Ältere energisch kommandierend in Schwung. Die vielen Trainingseinheiten an der Außenalster, im Stadtpark sowie in Planten un Blomen haben sich bezahlt gemacht.

Zwar sind die Beine nach der Ankunft noch ein wenig wackelig, doch steigert sich die Stabilität von Minute zu Minute. Das ist auch gut so; denn ab 15 Uhr wartet der private Fanklub in der "Schramme" zu Eppendorf auf das gewinnende Paar. Dessen Träume unisono so auf den Punkt gebracht werden: "Eine riesige Currywurst und ein großes Bier!"

Jeder gönnt sich eine andere Form von Belohnung. Auch Regina Philipp aus Tübingen hat das kleine Wunder nur mit familiärer Unterstützung geschafft. "In Alsterdorf wartete der Mann mit dem Hammer", sagt sie nach ihrem dritten Marathon. "Schluss, aus, sofort aufhören", signalisierten sämtliche Körperpartien gen Großhirn. Und ganz gewiss hätte die 55-Jährige der Versuchung sofortigen Stillstands nachgegeben, wäre nicht Tochter Barbara als Retterin eingesprungen. Die Heilerziehungspflegerin aus Barmbek gesellte sich vom Straßenrand zur Mutter, motivierte sie unablässig und sorgte dafür, dass nach 4:44:45 Stunden alles geschafft war. Nach acht Wochen Abstinenz winkt nun die kleine Belohnung: ein Gläschen Sekt. Ein Prosit auf den ganz persönlichen Triumph!

Ein Jahr älter als Regina Philipp ist Wieslaw Slawinski aus Billstedt, nach einem Dutzend gelaufener Wettbewerbe fast ein Profi. Wie ein Uhrwerk spult der arbeitslose Chemiker die Distanz herunter. Schwachstellen sind Fehlanzeige. Nach zweidreiviertel Stunden plus 30 Sekunden lässt der 56-Jährige das Gros des Feldes hinter sich. Nicht nur Mutter Halina, eigens aus Grudziadz angereist, ist stolz auf den konditionsstarken Athleten, der als zweitbester Hamburger seiner Altersgruppe abschneidet. Beim Gespräch macht Herr Slawinski den Eindruck, als könne er sofort wieder an den Start gehen.

Dagegen ist Roland Bahrs nach knapp dreieinhalb Stunden fürs Erste bedient. Völlig erschöpft sitzt er auf dem Heiligengeistfeld, seine nackten Füße weit von sich gestreckt. Eine Banane und ein orangefarbener Energiedrink wecken erste Lebensgeister. Bei Kilometer 15 wäre für den Maurermeister aus Bielefeld beinahe Endstation gewesen. "Ich hatte die Temperaturen unterschätzt und den Lauf zu schnell angegangen", sagt er rückblickend. "Da überall Wasser gereicht wurde und uns die Hamburger Mut machten, habe ich durchgehalten."

Rolf Honsel aus Dorsten hat es gleichfalls geschafft. Mit Filzhut, bajuwarischer Tracht und einem Plakat am Rücken "Koan Titel!" sorgte er für laufenden Hohn in Richtung FC Bayern. Nur zu gern applaudierten die Hanseaten - schließlich können sie titellos mitfühlen. Dabei war die Teilnahme des begeisterten Schalke-Fans Honsel bis zuletzt offen. Trotz eines Tickets für das Pokalfinale am Sonnabend in Berlin entschied er sich für Hamburg: "Mit Schalke im Herzen." Gestern Abend, so die Planung, sollte die Post so richtig abgehen. Ob das noch ging?