Selten war ein Land so sehr verliebt in ein Mädchen. Selten lagen so viele Hoffnungen auf so schmalen Schultern.

Düsseldorf. Die MS "Rheinfantasie" will gleich ablegen, am Anleger stehen noch ein paar Fans und machen Fotos mit ihren Handys, es wird gewinkt, ein Mann im Trachtenjanker hat vorsichtshalber jeden, der das Schiff bestieg, um ein Autogramm gebeten und packt nun seine voll geschmierte "Historie der Stadt Düsseldorf" sorgsam in die Tasche. Er winkt noch einmal, als Letzter steigt ein Mitglied der französischen Delegation auf das Schiff, es kann losgehen, das "Event der Big Five", wie die nachmittägliche Sause genannt wird.

Traditionell stellen Spanien, England, Frankreich, Italien und Deutschland ihren Eurovision-Song-Contest-Beitrag zwischen den beiden Halbfinalen noch einmal der Presse vor. Es soll familiär zugehen auf dem Event, ganz im Geist des ESC, bei dem ja weniger der Wettbewerbscharakter im Vordergrund steht, sondern eher dieses Miteinander der Nationen, die Kollegialität der Künstler, keine Rivalen, nur Freunde hier, klar. Deshalb auch: entspanntes Lachen bei Amaury Vassili aus Frankreich, zumindest ein amüsiertes, aber leicht abwesend wirkendes Lächeln des Italieners Raphael Gualazzi, Spaniens Lucía Pérez hingegen kämpft sich mit ihren Stöckelschuhen die Gangway herunter und die Jungs von Blue scherzen miteinander, klatschen sich ab, sie haben es ja leichter als die anderen, sie haben ja sich. Und Lena? Lena sitzt auf dem Sonnendeck. Das heißt, so richtig weiß man das nicht, weil um sie herum eine Traube von Menschen steht.

Lena bekommt man nicht mehr allein, Lena ist inzwischen ein Konzept. Lena steht für eine Medien-Unterhaltungs-Maschinerie aus Fernsehen, Internet und Musik, die dieser Tage in Düsseldorf reibungslos und auf Hochtouren läuft. Die 19-Jährige ist dort aber irgendwo, ganz sicher mittendrin. Und um sie herum, da kreisen Fotografen, Kameramänner, PR-Leute und Vertreter der Musikindustrie, Sponsoren, Radiomenschen und Internetblogger, Klatsch- und Schönschreiber, Feuilletonisten und Nachrichtenredakteure aller großen Agenturen wie Satelliten.

Es gab schon mal so eine. Sie war ein bisschen jünger, als sich das Land in sie verliebte, aber sie hatte am Anfang auch dieses Unbeschwerte, auch dieses Coole, auch diese Leichtigkeit, die dem Land manchmal so fehlt. Und auch sie hatte ein Talent, dass es eine Freude war, ihr zuzusehen, dabei war es eigentlich egal, was sie machte. Auch sie redete manchmal irgendeinen Quatsch daher, und man fand das niedlich.

Vielleicht gab es außer Franziska van Almsick kein Mädchen, das die Deutschen so schnell so lieb gewonnen haben wie Lena Meyer-Landrut: in diesem einen magischen Moment, der aus Lena Meyer-Landrut "Unsere Lena" machte und aus Franziska van Almsick "Unsere Franzi".

Bei Lena war es der Gewinn des Eurovision Song Contests in Oslo, der erste Sieg Deutschlands seit 28 Jahren in diesem einigermaßen absurden Wettbewerb, bei dem meist furchtbar gekleidete Menschen furchtbare Lieder singen, wofür ein paar hinlänglich bekannte, aber viele unbekannte exotische Länder Punkte von eins bis zwölf vergeben. Bei Franzi waren es immerhin noch die Olympischen Spiele in Barcelona gewesen und ein bisschen mehr Zeit hatte Franzi auch. 1990 schauten sich die Menschen keine Videofilme von Franzi auf dem Handy an, gesponsert von einer Mobilfunkfirma. Es gab noch keine Blogs, keine Musik, die man aus dem Internet lädt, die Maschine lief noch analog, nicht digital. Bei Lena geht alles schneller.

Nun hat man es nicht leicht, wenn ein ganzes Volk in einen verschossen ist. Franziska van Almsick war diese Liebe immer wichtig, sie kämpfte ihr Leben lang darum, weshalb ihr meist weniger gelang, als ihr Talent vermuten ließ. Lena Meyer-Landrut scheint diese Liebe hingegen schnurz zu sein. Es gibt keine dunkle Lena hier beim ESC in Düsseldorf, auch wenn ihr Lied "Taken By A Stranger" nicht ihrem Image des netten Mädchens von nebenan entspricht, wie ein australischer Journalist auf ihrer ersten Pressekonferenz hier anmerkte.

Lena läuft nicht mit Kopfhörern in der Gegend herum, sie ist ansprechbar, auch wenn sie sich rar macht. Sie lächelt, macht Quatsch. "Ich hab eine lustige Geschichte zu erzählen", sagt Lena etwa und amüsiert das System mit einer Flasche Apfelsaft, die sie nicht ganz verschlossen habe, weshalb diese Flasche ausgelaufen sei und ihre Klamotten eingesaut habe. Sie bringt immer noch alle zum Lachen. Nur wurde ihr das früher als Natürlichkeit ausgelegt, heute wirkt es auf viele, vor allem auf die, die sie aus der Ferne kritisieren, aufgesetzt und kalkuliert. Es war klar, dass die Lena-Stimmung auch schnell ins Gegenteil umschlagen könnte. Doch so schnell? Das überrascht dann doch.

Dabei hat sich an Lenas Auftreten nicht viel geändert. Lena ist immer noch die Süße, Freche, Kluge aus bürgerlichem Haus, die anscheinend perfekte beste Freundin, große Schwester und Tochter. Sie wirkt ein weniger unsicher vor großer Kulisse, und sofort wird ihr Selbstbewusstsein als Arroganz ausgelegt. Lena nervt, schreibt das Feuilleton. Sie sagt, man müsse die Glotze ja nicht anmachen und niemand werde zwangsverpflichtet, auf ihre Konzerte zu gehen. Lena ist trotzig, heißt es dann.

Lena biedert sich trotzdem nicht an, kommt nicht mit rührseligen Geschichten aus ihrem Privatleben um die Ecke. In allem, was Lena öffentlich sagt und macht, bleibt sie oberflächlich, bleibt sie Konzept und wird kein Mensch. Sie lebt mit ihrem Freund zusammen in Köln, weiß man. In Düsseldorf hat sie sich ein paar Mal dazu geäußert, dass sie noch nicht genau wisse, was sie nach dem ESC mache, ein drittes Mal werde sie nicht mehr antreten, auch wenn sie gewinne. Das ist alles.

Und so schießt man sich auch auf den vermeintlichen Bösewicht in diesem Spiel ein, den Puppenspieler, der handstreichartig die ARD übernommen hat und sie mit der Titelverteidigung überrumpelte, der in einer ellenlangen Show Lena gegen sich selbst antreten ließ, um unseren Song für Düsseldorf zu finden, den Erschaffer des Lena-Systems, Stefan Raab. Auch er hält sich mit Privatem zurück, auch er kommt ohne vom Boulevard inszenierte Dramen aus, was der ihm naturgemäß übel nimmt. Raab sagt, die Titelverteidigung sei nationale Aufgabe. Lena beschenkt für die nationale Aufgabe die Journalisten mit Apfelkuchen und verteilt Kartoffelsalat unter ihren Konkurrenten. Sie lächelt, kiekst und schafft es, anders als Franziska van Almsick damals, die Sache nicht allzu ernst zu nehmen. Sie ist gut beraten damit und wird vielleicht im nächsten Jahr wirklich Theologie studieren, sie war im Kloster von Taizé, es scheint sie nachhaltig geprägt zu haben. Zunächst aber, bis zum 14. Mai, dem Finaltag, nimmt sie ihre Rolle in dem System Lena ein. Sie scheint dabei zu wissen, dass es wenig mit ihr zu tun hat, genießt diesen Wahnsinn sogar manchmal.

Sie hat sich vor Beginn des ESC eine Kamera gekauft, die sie immer mit sich trägt. Sie macht Fotos. Wie ein Tourist in ihrem eigenen Leben.

Die Leute vom NDR, der offizieller Ausrichter des ESC ist, sind natürlich auch auf der "Rheinfantasie". Man weiß nicht genau, was sie machen, außer telefonieren und demonstrativ den Boulevard-Heini von ProSieben gering zu schätzen. Da sind die Brainpool-Leute, das Management, die sich heute weniger mit Lena selbst beschäftigen als mit denen, die etwas von ihr wollen. Ganz nah dran sind ihre Backgroundsängerinnen, mit denen sie kichert, die ihr das Getränk halten, wenn ein Fan ein Foto macht und Lena posieren soll.

Es ist ein ständiges Kommen und Gehen in Lenas Peripherie, da geht das eine Mädchen, ein anderes kommt, da verabschiedet sich wieder einer der Telefonierenden mit einer Umarmung und von weiter her wird jemand heran gewinkt. Und doch hat alles seine Ordnung. Manchmal aber ruft Lena selbst jemanden heran.

Da! Ein lautes "Sabiiine", Sabine Heinrichs, die Lenas Show mit Matthias Opdenhövel auf ProSieben moderiert hat, kommt herbei, Lena läuft um ihr eigenes System herum und fällt "Sabiiine" in die Arme, was das System kurzzeitig durcheinanderbringt.

"Ja, gut geht's. Und selbst?", fragt Lena, und jetzt kann man auch einen Blick auf sie erhaschen: Ganz, ganz dünn ist Lena, dünner noch als früher, und blass, doch kann man davon ausgehen, dass es sich auch um Schminke handelt, stark geschminkt ist Lena. "Na denn!" Sabiiine wird verabschiedet, ein belgisches Kohlenschiff hupt ganz laut, der Steuermann schreit "Leeeeenaaa, wir lieben dich" hinüber, doch Lena hört ihren Namen wahrscheinlich zu oft, um immer darauf mit einem Lächeln zu reagieren.