Anonymisierte Bewerbung: Was halten eigentlich Personalexperten davon, Foto, Namen und Geschlecht aus der Mappe zu tilgen?

Hamburg. Wie lange braucht ein Personaler eigentlich für die erste Durchsicht einer Bewerbungsmappe? Zwei bis vier Minuten. Diese Zeit bleibt einem Jobsuchenden für einen ersten Eindruck. Ob der gut ausfällt, ist oft eine sehr menschliche Angelegenheit. Auch Personaler sind nicht frei von Vorurteilen - ihren eigenen und denen ihres Unternehmens.

Das Foto zeigt eine Frau um die 30? Wenn die mal nicht demnächst schwanger wird. Der Name ist ein ausländischer? Ob der wirklich so gut Deutsch kann ... Das Geburtsdatum liegt in den 60er-Jahren? Da hapert es doch bestimmt schon mit der Belastbarkeit.

Ob Klischee oder Erfahrungswert - die Bewerbung landet auf dem Absagen-Stapel. Mit dem sogenannten anonymisierten Bewerbungsverfahren soll das anders werden. Bevor die Personalabteilungen und Führungskräfte die Mappen zu sehen bekommen, werden Foto, Name, Angaben zu Alter, Geschlecht, Herkunft und Familienstand entfernt oder geschwärzt, was die Einstellungschancen für alle möglicherweise Diskriminierten verbessern soll.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ein Modellprojekt dazu auf den Weg gebracht. Fünf Unternehmen, darunter die Deutsche Post und der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble sowie das Bundesfamilienministerium nehmen daran teil. Sie haben sich verpflichtet, ab Herbst dieses Jahres zwölf Monate lang nur noch anonymisierte Bewerbungen zu begutachten. Die Auswahlprozesse werden wissenschaftlich begleitet und anschließend ausgewertet.

Ganz unwissenschaftlich dagegen hat das Abendblatt bei Geschäftsführern, Personalern und Unternehmensberatern angefragt und Meinungen zur anonymisierten Bewerbung gesammelt. Das sagen die Praktiker:

Dr. Roland Knieler, Geschäftsführer Bode Chemie
"Von anonymisierten Bewerbungen halte ich nichts. Ich wünsche mir für unser Unternehmen Mitarbeiter mit Namen und Gesichtern. In einem international agierenden Unternehmen wie Bode gerne auch mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und vielfältigen Sprachkenntnissen. Diese Bedürfnisse sollte der Bewerbungsprozess abbilden - und zwar von Anfang an. Alles andere führt zu Enttäuschungen, auch und vor allem für die Bewerber selbst. Lassen Sie uns lieber Vorurteile wirklich abbauen!"

Florian Koenen, Geschäftsführer Topos Personalberatung
"Ich halte den Ansatz für nicht sehr praxisnah. Der ohnehin komplexe und zeitintensive Auswahlprozess wird weiter kompliziert, was insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen organisatorisch schwer abzubilden ist. Da auch die Geschwindigkeit in Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel für eine erfolgreiche Rekrutierung entscheidend sind, sehe ich hier Wettbewerbsnachteile entstehen."

Heidrun Jürgens, Inhaberin Heidrun Jürgens Personaldienstleistungen
"Uns Personalern wurde aufgrund des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) schon eine 'verbale Fußfessel' angelegt. Leider erfährt der Arbeitssuchende keine Ablehnungsgründe mehr, was von vielen Kandidaten vermisst wird. Erreichen wir tatsächlich mit der anonymisierten Bewerbung, dass wir den optimalen Kandidaten, die optimale Kandidatin einstellen? Ich glaube kaum. Immerhin macht 70 Prozent der Qualifikation das Sozialverhalten aus, das erlese ich nicht über die schriftliche Bewerbung. Durch anonymisierte Bewerbungen werden wir Personaler uns durch noch mehr Papier durchkämpfen müssen."

Dr. Volker Bonorden, Leiter Personalamt der Stadt Hamburg
"Wir sind davon überzeugt, dass Auswahlentscheidungen dann fair und AGG-konform sind, wenn sich das gesamte Verfahren an objektiven und nachvollziehbaren Kriterien orientiert. Alter, Geschlecht oder Herkunft können dann aber rechtlich zulässig eine Rolle spielen, wenn zum Beispiel bei der Verbeamtung gesetzlich bestimmte Altersgrenzen zu beachten sind, wenn etwa der Frauenanteil in Führungspositionen erhöht werden soll, wenn beispielsweise der Anteil von Nachwuchskräften mit Migrationshintergrund gesteigert werden soll. Wir sehen deshalb derzeit anonymisierte Bewerbungsverfahren nicht als notwendiges Instrument an, sind aber gespannt, welche Ergebnisse der entsprechende Modellversuch erbringen wird."

Dr. Torsten Schumacher, Inhaber schumacher&baumanns
"Wirtschaftlicher Erfolg ergibt sich aus Vielfalt. Diese hat jedoch zwei Bedingungen. Erstens: Es muss eine Vielfalt aus Prägungen, Einstellungen und Erfahrungen sein, nicht die oberflächliche Betrachtung von Alter, Haut-farbe oder Geschlecht. Zweitens: Vielfalt muss von innen kommen; sich aus dem Selbstverständnis einer Organisation, ihren formalen und informellen Mechanismen wie selbstverständlich ergeben. Das zeichnet die vitalsten und leistungsfähigsten Unternehmen aus. Die anderen haben das Nachsehen. Sie führen anonyme Bewerbungen ein."

Claus Fehling, GeschäftsführerGMC Management Consulting
"Als Outplacementberater sehe ich die Chancen der Bewerber auf dem Arbeitsmarkt verbessert. Ich spreche vor allem für die Gruppe der 40- bis 55-Jährigen. Wenn sich dieser Weg im deutschen Gesetzeswerk verankern ließe, hätten die Bewerber eine niedrigere Hürde, um in ein persönliches Gespräch zu kommen. Fokussiert allein auf ihre oftmals sehr guten fachlichen und persönlichen Qualifikationen wäre die anfängliche Anonymisierung ein deutlicher Schritt hin zu mehr Chancengleichheit."

Nesrin Kurbak, Leiterin der Personalentwicklung bei Le Crobag
"Sicher können anonymisierte Bewerbungsverfahren Diskriminierungen am Anfang verhindern. So hat jeder Bewerber, der aufgrund seiner Qualifikation für eine Stelle infrage kommt, die gleiche Chance in den ersten Sekunden des Bewerbungsgesprächs - beim ersten Eindruck - zu punkten. Um Diskriminierung auszuschließen, muss sich ein Unternehmen vor allem aber auch mit seiner Unternehmenskultur und dem sich daraus ableitenden Menschenbild beschäftigen. In anonymisierten Bewerbungen sehe ich keine Langzeitlösung, weil meiner Meinung nach nicht die Ursache der Diskriminierung bekämpft wird."

Claus Peter Müller-Thurau, Psychologe und Personalberater
"Bewerbungen müssen ein 'Gesicht' haben dürfen - also dem Jobaspiranten die Chance geben, sich als einmaliges und einzigartiges Individuum zu präsentieren. Aufgrund welcher Daten will man Interessenten ein Vorstellungsgespräch gewähren oder verweigern, wenn alle Bewerbungen weitgehend 'geklont' sind? Und was wird aus den Frauenförderungsprogrammen, für die sich manche Unternehmen starkmachen? Soll die Betriebswirtin die weibliche Endung ihres Titels im Diplom-Zeugnis 'schwärzen'? Kurzum: Ich möchte grundsätzlich keine anonymen Briefe erhalten. Es gibt nur Nachteile - und zwar für alle Beteiligten. Anonymisierte Bewerbungen generieren mehr kostenträchtige und vor allem unehrliche Vorstellungsgespräche. Da man einem Bewerber ja nicht nach fünf Minuten sagen kann, dass er zur Aufgabe, zum Team beziehungsweise zum Unternehmen nicht passe, werden sich die Interviewer mit mehr oder weniger geheuchelter Aufmerksamkeit über die Zeit quälen. Auch hier wird sich mal wieder das gut Gemeinte als schlecht erweisen."

Mehr Stellungnahmen finden Sie online: www.abendblatt.de/anonyme-bewerbung