Hamburg. Die Hamburger Industrie blickt mit Sorgen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt: Im Auftrag des Industrieverbands Hamburg (IVH) hat der langjährige Leiter des Hamburger Wirtschaftsforschungsinstituts HWWI, Henning Vöpel, eine Kurzstudie erstellt, die als „Mahnung und Anstoß zum Aufbruch“ verstanden werden soll. „Das Murren in der Industrie ist zuletzt immer lauter geworden. Hamburg benötigt einen industriepolitischen Schub“, sagte der IVH-Vorstandsvorsitzende Matthias Boxberger im Gespräch mit dem Abendblatt.
Seine Wahrnehmung wird von der Analyse der Studie, die dem Abendblatt vorliegt, gestützt. „Die wirtschaftliche Dynamik hat schon länger nachgelassen“, heißt es dort. Vöpel verweist auf die OECD-Auswertung aus dem Jahr 2019, die einer Ohrfeige gleichkam. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass Hamburg beim Wirtschaftswachstum zwischen 2005 und 2015 unter den elf deutschen Metropolregionen den letzten Platz belegt hatte. „Eine gefährliche Vermögensillusion und kleinteilige Schaufensterpolitik haben zu Bequemlichkeit und Sorglosigkeit geführt“, beschreibt Vöpel die Lage seiner Wahlheimat.
Wirtschaftspolitik: „Die nächste industrielle Revolution ist grün"
„Hamburg braucht eine groß gedachte industriepolitische Vision, eine ganzheitliche standortpolitische Strategie und vor allem jetzt eine mutige Umsetzung, um den Wohlstand in Zukunft zu erfüllen“, so Vöpel zum Abendblatt. Die Welt stehe am Beginn eines neuen Industriezeitalters. „Die nächste industrielle Revolution ist grün und digital.“ Nun würden die Karten neu gemischt. Vöpel verweist auf die Lehren der Geschichte: „Alte Industrien und Industriestandorte, die den Status quo bloß verteidigten, erlebten einen Niedergang, die neuen Industrien und Standorte dagegen einen schnellen Aufstieg.“
Dieses Schicksal kann auch Hamburg blühen: Vöpel warnt in seiner Studie vor „nachlassender Dynamik und strukturellen Defiziten“ am Standort. Gerade der Rückstand zu Süddeutschland wachse immer weiter, besonders deutlich nach Krisen. Und ein Umschwenken kostet Zeit: „Wenn Hamburg heute handelt, wird das ohnehin erst frühestens 2030 wirksam.“ Gegenüber dem Süden hat der Norden bereits seit den1970er-Jahren stetig an Dynamik verloren.
"Neue Standorte auf dem Vormarsch"
Noch habe der Norden starke industrielle Kerne, wie etwa die Luftfahrtindustrie, die Kupferherstellung, die Chemiebranche oder die Medizintechnik. „Doch auch hier gilt, dass neue Standorte auf dem Vormarsch sind.“ Tesla sei nach Brandenburg, Intel nach Magdeburg gegangen. Vöpel erwartet einen Schub für die Regionen durch die Ansiedlung von Zulieferern und die Vernetzung mit Forschungseinrichtungen.
In dem Papier, das der Vorstand des Industrieverbands am Dienstag mit seinen Mitgliedern diskutieren will, fordert Vöpel ein mutiges Sofortprogramm für die Industrie unter dem Titel „5 mal 5 für ‘25“: Hamburg soll bis dahin seine Forschungs- und Entwicklungsausgaben von 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf fünf Prozent mehr als verdoppeln. Zudem benötige die Industrie mehr Platz. Vöpel schlägt vor, dass diese Fläche jährlich um fünf Prozent wächst – bislang ist es ein Prozent. Zukunftskompetenzen sieht Vöpel in den starken Kernen der Materialwirtschaft, der Energie, bei Antrieben, in der Kreislaufwirtschaft und auch in der Logistik.
„Zu gut lief es, zu sicher schien der ewige Wohlstand"
„Industrielle Wertschöpfung wird klimaneutral und ressourcenschonend sein. Die Klima- und Umweltpolitik wird immer engere regulatorische Vorgaben setzen“, erwartet der Wirtschaftsprofessor Vöpel. So werde grüne Energie zu einem wichtigen Standortkriterium. Hamburg solle die Produktion um fünf Prozent jährlich steigern. „Wir wollen der Stadt mit der Debatte einen Schub verleihen“, sagt Boxberger. „Uns geht es nicht um ein Heilsversprechen für 2045, sondern um konkrete Schritte für die kommenden Jahre.“
Der Industrieverband sieht eine gewisse Selbstzufriedenheit und Sattheit in der Hansestadt. „Will Hamburg die schönste Stadt sein oder die erfolgreichste Stadt werden?“ fragt Boxberger. „Die Studie zeigt klar auf, dass Hamburg hinter seinen industriepolitischen Möglichkeiten zurückbleibt. Wirtschaft und Industrie waren für die Politik lange Zeit kein Gewinnerthema“, sagt Boxberger. „Zu gut lief es, zu sicher schien der ewige Wohlstand. Doch nun haben zwei große Krisen innerhalb von drei Jahren die Politik und uns alle plötzlich und unvorbereitet aus der Illusion der hanseatischen Erfolgsspur gerissen.“ Er formuliert einen konkreten Wunsch ans Rathaus: „Wir wünschen uns eine aktivere und einbeziehende Industriepolitik, wie es sie unter Scholz gab.“
„Wir wollen die Politik zu mehr Ehrgeiz animieren“
Der IVH-Vorstandsvorsitzende kritisiert, dass der Hafenentwicklungsplan nicht vorangekommen sei und auch der Masterplan Industrie kaum konkreter und verbindlicher werde. IVH-Geschäftsführer André Trepoll umreißt die Stoßrichtung der Studie: „Wir wollen die Politik zu mehr Ehrgeiz animieren.“
So liest sich auch die Studie von Vöpel. Dort heißt es zur Politik des rot-grünen Senats: „Die Stadt hat sich in den vergangenen Jahren durchaus erfolgreich um Wohnungsbau, Verkehrswende und Wissenschaft gekümmert. Das alles ist unbestreitbar notwendig, bleibt aber nur dann finanzierbar, wenn es der Stadt wirtschaftlich auch in Zukunft gut geht und die Finanzkraft erhalten bleibt.“ Dafür brauche es eine Wirtschafts- und Standortpolitik, die sich wieder um die harten Faktoren kümmert. „Die aber hat man in den letzten Jahren eher vermisst.“ Es fehle der Gestaltungswille, der in der Vergangenheit Hamburg vorangebracht hat, ob Airbus, der HafenCity oder der Elbphilharmonie.
Wirtschaftspolitik: Wohlstand nicht selbstverständlich
Man darf gespannt sein, wie das Rathaus und Wirtschaftssenator Michael Westhagemann auf den Anstoß reagieren. Standortdebatten haben eine gewisse Tradition. Vielleicht ist es aber der Zeitpunkt, der diese Mahnung von früheren unterscheidet. Wie heißt es in der Kurzstudie? „Die Pandemie und der Krieg haben uns vor Augen geführt, dass unser Wohlstand und die Versorgungssicherheit eben nicht selbstverständlich sind, sondern auf Voraussetzungen beruhen: einer guten Infrastruktur, resilienten Lieferketten und leistungsfähigen Unternehmen.“
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Und in einem weiteren Punkt werden auch die Kritiker dem Verfasser Vöpel recht geben müssen: „Hamburg lässt sich in einem Satz vielleicht am besten damit beschreiben, dass die Stadt in vielem gut, aber in kaum etwas wirklich internationale Spitze ist: die Universitäten, der Flughafen, die Museen, womöglich der Hafen, schon länger der Fußball ...“
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