Berlin. Corona-Maßnahmen fallen. Nach dem Ende der 2G-Regeln hofft der Handel auf mehr Kunden. Kommt jetzt der große Ansturm auf die Läden?

Alle Menschen dürfen wieder ohne Impfnachweise wie 2G und 3G zum Einkaufen gehen. Was sich Einzelhändler vom Ende dieser Corona-Beschränkungen versprechen und wie sie mehr Klimaschutz in die Läden bringen wollen, sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE) dieser Redaktion.

Die Zugangsbeschränkungen für Läden fallen. Ist das jetzt der Befreiungsschlag für den Handel und das Ende aller Probleme?

Leider nein. Es ist gut, dass die 2G- und 3G-Beschränkungen fallen, weil sie auch keinen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten können. Dies ist für uns noch keine Lockerung, sondern eher die Korrektur einer unwirksamen Maßnahme. Dennoch befinden wir uns weiter in der Pandemie – und damit in der Krise.

Wann würde für den Handel der „Freedom Day“ beginnen?

Wir müssen lernen, mit der Pandemie anders umzugehen – zum Beispiel durch höhere Impfquoten. Unwirksame Maßnahmen wie 2G-Regeln im Handel sollten dagegen für immer aus dem Sanitätskasten gestrichen werden. Selbst im Lebensmittelhandel mit täglich 40 Millionen Kunden gab es keine höheren Infektionsraten. Anders sieht es bei der Maskenpflicht aus: Die Maske schützt einen selbst und andere. Man hat die 2G-Regeln im Handel genutzt, um Ungeimpfte zum Impfen zu bringen – doch dieses Konzept ist nicht aufgegangen. Der hohe wirtschaftliche Schaden im Handel steht keinem gesundheitlichen Nutzen gegenüber.

Erwarten Sie einen Run auf die Geschäfte?

Wir gehen davon aus, dass jetzt wieder mehr Menschen zum Einkaufen in die Innenstädte kommen. Die Kauflust und Geld sind vorhanden. Die Situation wird sich normalisieren. Doch einen Ansturm erwarten wir nicht.

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Sind Sonderaktionen geplant?

Rabattaktionen sind nicht der richtige Weg, um Menschen in die Innenstädte zu bewegen. Wir werden vielmehr alles unternehmen, um die Innenstädte attraktiv zu machen. Wir brauchen einen Neustart in der Krise. Wir wollen eine Innovationsoffensive starten und in Klimaschutz, Digitalisierung, Innenstädte und Bildung investieren.

Stefan Genth (58) ist Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). ER vertritt die Interessen von rund 100.000 Betrieben.
Stefan Genth (58) ist Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). ER vertritt die Interessen von rund 100.000 Betrieben. © Getty Images | Pool Pool

Wie geht es dem Handel nach zwei Jahren Pandemie?

Am stärksten hat der Textileinzelhandel gelitten. Wir erwarten, dass auch in diesem Jahr der Umsatz noch 30 Prozent hinter der Vor-Corona-Zeit liegen wird. Das gilt auch für den Online-Handel. Viele haben dort zwar Umsatzzuwächse erzielt, aber aufgrund der Versandkosten und Retouren blieben nur geringe Erträge übrig.

Gibt es auch Profiteure?

Das Einkaufsverhalten hat sich geändert. Während der Gastronomie-Lockdowns hat der Lebensmitteleinzelhandel zugelegt. Baumärkte und der Möbelhandel profitierten vom Cocooning – dem Rückzug ins Private. Neben den großen Online-Plattformen sind mittlerweile aber auch rund 200.000 Geschäfte – und damit mehr als jedes zweite der insgesamt 350.000 – digital und online unterwegs. Sie haben eigene E-Commerce-Shops, verkaufen über Plattformen oder bedienen Social-Media-Kanäle zur Kundenbindung.

Wo sehen sie künftig die besten Chancen für den Einzelhandel? Haben Kaufhäuser noch eine Chance?

Der Einzelhandel braucht gut funktionierende Innenstädte – also einen guten Angebotsmix aus Freizeit, Kultur und Einkaufen. Zudem müssen sie gut erreichbar sein. Einkaufspassagen und klassische Kaufhäuser werden auch morgen noch interessant sein. Die Konzepte müssen jedoch weiterentwickelt werden. Die Ansprüche der Verbraucher sind größer geworden – sie wollen eine attraktive und lebendige Innenstadt.

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Aber die Kaufhauskette Galeria musste schon wieder einen Millionenkredit als Staatshilfe beantragen…

Das muss man differenzieren: Solche Kredite waren der einzige Weg für große Handelsunternehmen, überhaupt Unterstützung zu bekommen. Diese Kredite sind übrigens auch nicht billig und kosten bis zu 7 Prozent Zinsen. Dies muss man trennen von der allgemeinen Diskussion, ob ein Warenhaus noch Zukunft hat. Ich bin davon überzeugt, dass sowohl die Innenstädte, Warenhäuser und Shoppingcenter eine Zukunft haben – und zwar in großen wie in kleineren Städten.

Wie viele Läden mussten geschätzt während der Pandemie schließen?

Insgesamt mussten bislang 25.000 Läden mit ihren Filialen schließen, in diesem Jahr dürften 16.000 hinzukommen. Viele Unternehmen sind leise gestorben. Nicht nur kleine Läden wurden geschlossen, auch in Shopping-Centern und 1A-Lagen gibt es Leerstände. Gründe waren die Lockdowns. Die staatlichen Überbrückungshilfen reichten nicht aus. Gerade bei kleineren Unternehmern war schnell das Eigenkapital aufgezehrt, bei manchen auch die Altersvorsorge.

Bislang haben hohe Mietpreise dazu geführt, dass in Einkaufsmeilen nur die großen Handelsketten vertreten sind. Wird sich dies ändern?

Ich bin mir sicher, dass wir den Peak der Höchstmieten in 1A-Lagen überschritten haben. Das war wirtschaftlich auch nicht mehr gesund. Selbst die großen Konzerne dünnen ihr Filialnetz aus und überprüfen jeden Standort. Umsatzabhängige Mieten werden künftig eine größere Rolle spielen. Statt auf Gewinnmaximierung zu setzen, werden Eigentümer gemeinsam mit ihren Mietern in die Zukunft geben. Durch diese Rückbesinnung hoffe ich, dass wir auch wieder mehr Vielfalt in die Innenstädte bekommen.

Haben Sie noch genügend Personal und Auszubildende?

Während der Pandemie mussten auch dank der Kurzarbeitshilfen keine Jobs abgebaut werden. Gleichzeitig brauchte der Lebensmittelhandel mehr Personal, das wir teilweise aus der Gastronomie gewonnen haben. Insgesamt haben derzeit mehr als 50 Prozent der Einzelhändler Schwierigkeiten, Fachkräfte zu bekommen. Bei Elektronikhändlern, Möbelhäusern und Lebensmittelhändlern sind es sogar fast 80 Prozent.

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Wie können neue Fachkräfte gewonnen werden?

Der Handel ist mit 3 Millionen Beschäftigten und rund 200.000 Auszubildenden eine der größten Branchen. Auf der Ausbildungswunschliste stehen wir auf den ersten Plätzen. Wir wollen, dass dies so bleibt. Doch hierfür brauchen wir einen Pakt zur Modernisierung der Berufsschulen und Ausbau der Weiterbildung, um für junge Leute attraktiver zu werden. Gerade in der dualen Ausbildung liegen große Potenziale.

Wie kann der Handel zum Klimaschutz beitragen und sich gegen die hohen Energiepreise stemmen?

Der Einzelhandel ist mit seinen 300.000 Handelsunternehmen der drittgrößte Energieverbraucher in Deutschland – und entsprechend stark betroffen. Wir haben eine eigene Klimaschutzoffensive gestartet, doch dazu brauchen wir Investitionen. Wie im Wohnungsbau könnte der Staat dazu ein Sonderabschreibungsprogramm für den Handel in den Innenstädten auflegen, das Investitionen in den Klimaschutz fördert. Wichtig wäre zudem die Befreiung von der EEG-Umlage für den Handel. Zudem sollte die Digitalisierung im Handel mit einem Fonds von 100 Millionen Euro vorangebracht werden.

Wie kann der Handel „grüner“ werden?

Wir stellen uns „Green Stores“ vor. So könnten vermehrt Photovoltaikanlagen zum Beispiel auf Supermarktdächern oder auf Einkaufspassagen gebaut werden. Wichtig wäre es dabei, dass dieser Strom auch von den Erzeugern genutzt werden kann, was bislang bürokratisch verhindert wird. Schaufenster könnten zum thermischen Schutz durch bessere Glasscheiben ausgetauscht werden. Die Beleuchtung kann optimiert werden. Durch Modernisierung könnte auch in Bestandsbauten viel Energie eingespart werden. Da gibt es große Potenziale, nicht nur bei Neubauten.

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Der Online-Handel hat massiv zugelegt, kommt vom Marktanteil aber noch nicht ans stationäre Geschäft heran. Wann wird der Onlinehandel an erster Stelle stehen?

Keiner kann in die Glaskugel sehen. Aber ich bin mir sicher, dass der stationäre Handel noch lange dominant sein wird. Der Lebensmittelhandel ist mit 200 Milliarden Euro die größte Teilbranche im Einzelhandel – und die wird weiterhin stark stationär geprägt sein. Während der Pandemie hätten die Menschen die Chance gehabt, noch viel mehr im Internet einzukaufen - aber es gibt offenbar auch hier Grenzen.

Wird der Handel die Impfkampagne der Bundesregierung weiter unterstützen?

Der Handel hat mehr als 750.000 Menschen auf Parkplätzen und in Einkaufszentren geimpft. Dieses niederschwellige Angebot für alle Bevölkerungsgruppen hat gut funktioniert, das machen wir auch weiter. Impfen ist der Schlüssel, die Pandemie zu einer endemischen Situation zu bringen. Wir erwarten aber auch, dass die Politik alles dafür tut, die Impfquote zu erhöhen. Hier zählt jeder Tag.