Hamburg. Auch wenn die Corona-Pandemie die freitäglichen Klimaschutz-Demonstrationen gestoppt hat, ist der „Greta-Effekt“ nun mit Verzögerung auch bei den Discountern angekommen. Denn einige der Produkte in ihren Regalen sind nach eigener Darstellung der Handelsketten nun „klimaneutral“.
Mit diesem Begriff wirbt Lidl für Brotaufstrich und veganes Hackfleisch, bei Aldi Nord sind es unter anderem Weingummis. Und Netto, die Niedrigpreis-Tochter des Hamburger Einzelhandelskonzerns Edeka, nimmt Mitte Mai einen Joghurt-Ersatz aus Soja, der ebenfalls „vollständig klimaneutral“ sein soll, ins Sortiment auf.
„Kimaneutrale“ Abfallsäcke
Doch Hamburger Unternehmen entwickeln schon seit einiger Zeit eigene Produkte mit diesem Etikett. So bringt Beiersdorf derzeit eine Reihe von entsprechenden Nivea-Gesichtspflegeprodukten auf den Markt, im Juni soll das gesamte Duschgelsortiment der Marke folgen.
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Seit Juni vorigen Jahres bietet die Firma Emil Deiss aus Langenhorn, nach eigenen Angaben deutscher Marktführer bei Müllbeuteln, „zu 100 Prozent klimaneutrale“ Abfallsäcke an. Unter der Marke Hydrophil brachte das Hamburger Unternehmen Wasserneutral die angeblich erste klimaneutrale Zahnbürste Europas heraus.
Schon 2016 gab es angeblich klimaneutrale Erdbeeren
Einer der Vorreiter auf dieser Welle ist ein Familienbetrieb, dessen Geschichte bis in das Jahr 1875 zurückreicht: Der Hammerbrooker Fruchtgroßhändler Port International begann schon 2016 mit klimaneutralen Erdbeeren, inzwischen sind unter anderem auch Bananen aus Südamerika hinzugekommen. Das Unternehmen versteht sich als Pionier in Sachen Nachhaltigkeit: „Wir haben in den 1990er-Jahren den fairen Handel und Bio-Bananen in Deutschland eingeführt“, sagt Geschäftsführer Mike Port.
Eines aber steht für Klimaschützer außer Frage: „Es gibt eigentlich kein Produkt, das nicht dazu beiträgt, klimaschädliche Gase zu emittieren“, sagt Rolf Buschmann vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Praktisch jeder Abschnitt im „Lebensweg“ einer Banane, eines Duschgels oder eines Müllbeutels ist mit Klimaauswirkungen verbunden – bis hin zu den Arbeitswegen der Beschäftigten.
Angebliche Klimaneutralität beruht auf der sogenannten CO-Kompensation
Alle der genannten Produkte haben daher eines gemeinsam: Ihre angebliche Klimaneutralität beruht letztlich auf der sogenannten CO2-Kompensation. Das funktioniert so: Zunächst muss sich der Hersteller oder eine von ihm beauftragte Agentur für Klimazertifikation daranmachen, den durch das Produkt verursachten CO2-Ausstoß zu ermitteln.
„Es hat ein Jahr gedauert, die Daten zu erheben, weil wir nicht auf Durchschnittswerte aus Datenbanken zurückgegriffen haben, sondern im Detail nachgefragt haben, ob die Plantagenarbeiter in Ecuador mit dem Fahrrad oder mit dem Bus zur Arbeit kommen“, sagt Mike Port. Im nächsten Schritt wählt man ein Klimaschutzprojekt aus, das irgendwo auf der Welt – meist in Schwellen- oder Entwicklungsländern – dazu beitragen soll, die CO2-Emissionen zu mindern.
Wasserfilter für Dorfbewohner
Manche dieser Projekte finanzieren Solar- oder Kleinbiogasanlagen, andere kaufen Wasserfilter für Dorfbewohner, damit diese kein Brennholz für das Abkochen des Wassers mehr benötigen, in vielen Fällen geht es um die Wiederaufforstung von Regenwaldflächen. Der Preis, den die Agenturen pro Tonne des „eingesparten“ Klimagases CO2 ansetzen, fällt sehr unterschiedlich hoch aus.
Er orientiert sich an den jeweiligen Kosten des Projekts, aber auch am Marktpreis der sogenannten CO2-„Emissionsrechte“, die an Börsen gehandelt werden und sich seit Jahresanfang 2020 von rund 25 Euro pro Tonne auf deutlich mehr als 40 Euro verteuert haben.
Beiersdorf nennt Produkte „klimaneutralisiert“
Alle „Klimaneutral“-Siegel der genannten Unternehmen basieren auf diesem Prinzip, auch das von Beiersdorf. Im Unterschied zum üblichen Vorgehen hat der Nivea-Hersteller jedoch einen Begriff gewählt, der nicht suggeriert, die Produkte seien ohne Klimaauswirkungen entstanden: Beiersdorf nennt sie „klimaneutralisiert“.
Außerdem bestehen Tiegel und Deckel der Gesichtscremes nun aus einem erneuerbaren Material, das als Nebenprodukt der Zellstoffherstellung anfällt. Mit dieser Innovation sei man ein Vorreiter in der Branche, sagt Michael Becker, Leiter der Beiersdorf-Verpackungsentwicklung: „Bis 2025 wollen wir 50 Prozent weniger erdölbasiertes Neuplastik für unsere Verpackungen einsetzen.“
Kritikpunkt von Klimaschützern begegnen
Mit dem Verweis auf reale Verbesserungen will man offenbar einem Kritikpunkt von Klimaschützern begegnen: „Es kann sein, dass ein Produkt, das nicht als ‚klimaneutral‘ gekennzeichnet ist, ökologisch gesehen besser ist als das mit dem Siegel“, so Buschmann. Daher sagt Karsten Smid, Klimaexperte bei Greenpeace: „Wir sind dafür, dass der tatsächlich von Produkten verursachte CO2-Ausstoß und die durch Kompensation angeblich woanders eingesparten Emissionen künftig getrennt ausgewiesen werden müssen.“
Wirkliche Klimagas-Minderungen nehmen außer dem Hamburger Nivea-Hersteller Beiersdorf auch andere Anbieter von zertifizierten Produkten für sich in Anspruch: Müllbeutel-Hersteller Deiss verweist auf eine Studie, die den Abfallsäcken einen dank verminderter Foliendicke um bis zu 30 Prozent gegenüber vergleichbaren Produkten geringeren CO2-Ausstoß bescheinigt, Obstimporteur Port hat unter anderem eine Fruchttrocknungsanlage auf eine Holzpellet-Heizung umgestellt.
Mehrwert für die Angebote
Voraussetzung für die Zertifizierung sind solche Maßnahmen aber nicht. Eine der Agenturen, die auf diesem Markt tätig sind, macht das ganz deutlich: „Bekleidungslinien, Lebensmittel, technische Geräte oder Finanzdienstleistungen – mit der Unterstützung von First Climate können Sie grundsätzlich alle Produkte und Dienstleistungen klimaneutral stellen.
Damit schaffen Sie einen Mehrwert für Ihre Angebote.“ So wirbt der Energiekonzern Total für klimaneutrales Heizöl, Shell hat ein freiwilliges Kompensationsprogramm eingeführt, „damit jeder Autofahrer seinen persönlichen CO2-Ausstoß beim Fahren ausgleichen kann.“
Verzicht statt Kompensation lautet die Lösung
Für den Greenpeace-Experten Smid ist so etwas „unverfrorenes Greenwashing“. Die Motivation der Unternehmen liegt jedoch auf der Hand: Man möchte auch kritische Verbraucher als Kunden behalten oder gewinnen. „So geht Naschen mit gutem Gewissen“, heißt es etwa von Aldi zu den Weingummis mit dem Klimazertifikat. Für diese Kennzeichnung unterstützt Aldi – wie viele andere Firmen auch – ein Baumpflanzprojekt. Allerdings sind gerade diese bei Experten umstritten.
Das Aufforsten garantiere keine dauerhafte CO2-Minderung, denn die Bäume könnten bald von Schädlingen befallen werden oder ungeplant niederbrennen, damit entweiche der im Wald gespeicherte Kohlenstoff wieder in die Luft, heißt es. Doch Aufforstungsprojekte sind vergleichsweise günstig und wohl auch daher beliebt.
Mehrkosten der zertifizierten Produkte sind häufig gering
Tatsächlich sind die Mehrkosten der zertifizierten Produkte häufig gering. Bei den Bananen sind es drei Cent pro Kilo, die Klimakompensation für das Shell-Benzin kostet 1,1 Cent je Liter. Nach Einschätzung von Smid sind die von den Klimazertifikat-Agenturen verlangten Preise je Tonne CO2 – abgesehen von Ausnahmen reicht die Spanne von deutlich weniger als 20 Euro bis hin zu mehr als 40 Euro - viel zu gering angesetzt. So setzt das Umweltbundesamt den Umweltschaden des Ausstoßes einer Tonne CO2 mit mindestens 195 Euro an.
Es ist aber die Frage, wie viele Menschen ein durch Klima-Kompensation sehr stark verteuertes Produkt noch kaufen würden. Einer Umfrage der Unternehmensberatung A.T. Kearney zufolge sind rund 70 Prozent der Verbraucher bereit, für nachhaltige Güter bis zu zehn Prozent mehr zu bezahlen. Im Schnitt kosteten solche Produkte jedoch 75 bis 85 Prozent mehr als andere.
Umweltschützer haben einen grundlegenden Einwand
Abgesehen von verschiedenen Detailfragen haben Umweltschützer aber auch einen grundlegenden Einwand gegen den angeblichen CO2-Ausgleich für Geld. Zu rechtfertigen sei dies nur, wenn der Konsument auf das Produkt oder die Dienstleistung nicht einfach verzichten könne, sagen sie.
„Wenn wir etwas gegen den Klimawandel tun wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als die CO2-Emissionen deutlich zu senken“, so Buschmann, etwa durch eine Einschränkung des Konsums: „Eine CO2-Kompensation ist aber bestenfalls ein Nullsummenspiel. Das gute Gewissen, das man sich mit dem Siegel der Klimaneutralität erkauft, bringt uns langfristig nicht weiter.“
Agentur Atmosfair vertritt eine eindeutige Position
Atmosfair, eine gemeinnützige Agentur, bei der man Flugreisen kompensieren kann, vertritt dazu eine eindeutige Position: „Wir bieten weder Unternehmen noch Privatkunden ein Siegel ‚klimaneutral‘ an, damit keine Fehlanreize für den Klimaschutz entstehen.“ Ein Fluggast habe – außer dem Verzicht auf die Reise – keine Wahl zwischen verschiedenen Optionen.
Weil es aber bei fast allen Konsumgütern bessere und schlechtere Alternativen gebe, bei Autos zum Beispiel den Umstieg auf einen kleineren Pkw oder ein E-Fahrzeug, offeriere man keinen CO2-Ausgleich für solche Produkte. Denn Atmosfair wolle „nicht dazu beitragen, dass das Ziel der absolut notwendigen Emissionseinsparung von der Möglichkeit der ‚Kompensation‘ verdrängt wird.“
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