Aliağa/Berlin. Weil wegen der Corona-Pandemie kaum noch Seereisen stattfinden, verschrotten Kreuzfahrt-Reedereien ihre Kähne massenhaft in der Türkei.

Nichts soll von den ausgedienten Stahlkolossen übrig bleiben. Dicht an dicht liegen die Luxuskähne in der Abwrackwerft von Aliağa in der Westtürkei. 2500 Arbeiter sind damit beschäftigt, Speisesäle und Maschinenräume mit Schneidbrennern auseinanderzunehmen.

Sechs Monate dauert das – pro Schiff. Sie montieren alles ab, was sich irgendwie zu Geld machen lässt: Hotels kaufen Stühle, Tische oder Schränke aus den Kabinen, das Altmetall landet in den Hochöfen der Stahlwerke rund um Izmir.

Friedhof der Kreuzfahrtriesen: Schiffsrecycling boomt

In Aliağa ist in den letzten Wochen ein gigantischer Friedhof für Kreuzfahrtschiffe entstanden. Das Geschäft mit dem Recyceln der schwimmenden Hotels boomt – zum Leidwesen der Kreuzfahrtbranche. Weil die seit Beginn der Corona-Pandemie in einer schweren Krise steckt, hat sie für viele Schiffe keine Verwendung mehr – und lässt sie in der Türkei entkernen.

„Es sind wirklich riesige Schiffe“, staunt Kamil Onal vom türkischen Verband der Schiffsrecycler. „Vor der Pandemie sind Kreuzfahrtschiffe selten zu unseren Abwrackwerften gekommen. Gewöhnlich haben wir Frachtschiffe und Containerschiffe abgewrackt.“

Rund 400 Schiffe ankern in internationalen Gewässern

Das Ausmaß der Krise wird am Beispiel des US-Konzerns Carnival Corporation besonders deutlich, des größten Kreuzfahrtunternehmens der Welt, zu dem Marken wie Aida Cruises und Costa Crociere gehören. „Wir sind dabei, 18 Schiffe aus unserer globalen Flotte zu entfernen“, erklärte Pressesprecher Roger Frizzell jüngst gegenüber der „Washington Post“.

Rund 400 Pötte ankern seit einem halben Jahr in internationalen Gewässern, sie verursachen den Reedereien hohe Kosten. Lesen Sie dazu: Aida-Kreuzfahrten: Neustart nach Corona-Pause verschoben

In der Nähe von Izmir demontieren Arbeiter ausgediente Kreuzfahrtschiffe.
In der Nähe von Izmir demontieren Arbeiter ausgediente Kreuzfahrtschiffe. © Getty Images | Chris McGrath

Der Lockdown verändert das Geschäft von Grund auf

So wird aus einem Wachstums- ein Problemmarkt: Dem Branchenverband Clia zufolge sind die jährlichen Passagierzahlen in den letzten zehn Jahren weltweit von gut 18 Millionen auf 30 Millionen gestiegen. Durch die weltweiten Lockdown-Maßnahmen ist das Geschäft zum Erliegen gekommen.

Erleben wir das schleichende Ende der Seereisen? Einer, der es wissen muss, ist der Tourismusforscher Alexis Papathanassis von der Hochschule Bremerhaven. Der 45-Jährige forscht seit 15 Jahren über die Branche und prophezeit im Gespräch mit unserer Redaktion den Abschied von der klassischen Kreuzfahrt.

„Die alte Normalität wird nicht wiederkommen“, sagt Papathanassis. Wahrscheinlich werde die Entwicklung „hin zum amerikanischen Kreuzfahrtmodell gehen: mit weniger Landgängen, die Urlauber sollen so viel Zeit wie möglich auf dem Schiff verbringen“.

Die Corona-Krise sorgt für Innovationen

Papathanassis, der von der griechischen Insel Rhodos stammt und selbst in einer Familie aufgewachsen ist, die vom Tourismus lebte, verweist auf einen Vorteil der Massenverschrottung: „Corona wirkt wie ein Trendbeschleuniger.“

Die in Aliağa abgewrackten Veteranen seien großteils um die 30 Jahre alt und hätten eh irgendwann ersetzt werden müssen: „Das geschieht nun schneller wegen Corona. Das ist eine positive Entwicklung. Denn neuere Schiffe sind kosteneffizienter und umweltfreundlicher.“

Für die Schiffseigner wird es ein harter Winter

Während mehrere kleinere Reeder Insolvenz angemeldet haben, fühlt man sich in der Westtürkei als Gewinner der Krise. Die Werft will die Menge des zurückgewonnenen Stahls bis Ende des Jahres von 700.000 Tonnen auf 1,1 Millionen Tonnen steigern.

Für die Schiffseigner ist hingegen keine Besserung in Sicht. In den USA etwa sind Kreuzfahrten noch bis mindestens Ende Oktober verboten. „Meine Prognose ist, dass die großen Reedereien genug Rücklagen haben, um bis November durchzuhalten“, glaubt Papathanassis. „Danach werden sie Liquiditätsprobleme bekommen. Es wird ein harter Winter werden.“

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