Hamburg. Wenn man Timm Duffner (42) fragt, was sein größter Erfolg war, fällt ihm eine Sache spontan als Erstes ein. Nein, es war nicht die Arbeit bei Unilever, wo er an der legendären Dove-Kampagne „Real Beauty“ mit normalen Frauen statt Models mitgearbeitet hat. Auch nicht sein Traumjob beim Eishersteller Ben & Jerry’s. Noch nicht mal die Gründung seiner eigenen Firma, eines Herzensprojekts. Nein, sein größter Erfolg war die Sache mit Michael, einem seiner Angestellten. Rentner, mit gerade mal Anfang 30. Schwer depressiv, oft nicht in der Lage, die Wohnung zu verlassen.
Als er bei Duffner anfing, konnte er gerade mal zwei Stunden arbeiten. Nicht pro Tag. Pro Woche! Mehr ging nicht, selbst das war schwer für ihn. Jedes Mal wieder eine Herausforderung. Oft dachte, sagte Michael, dass er noch nicht mal die zwei Stunden schafft. Ein paar Monate ging das so, dann fragte Duffner ihn, ob er nicht noch einen zweiten Tag arbeiten wolle, wieder für zwei Stunden. Michael lehnte ab, er hatte Angst, es nicht zu packen. Eine Woche später willigte er ein, es zumindest zu probieren. Heute arbeitet er zwei Tage pro Woche. Allerdings nicht zwei Stunden lang, wie geplant. Er arbeitet meistens länger.
Die Firma denkt radikal sozial
Für andere mag das unbedeutend sein, eine Petitesse. Für Duffner ist es einer seiner größten Erfolge. Denn Menschen wie Michael sind der Grund, warum Duffner mit zwei Freunden eine Firma gegründet hat. Eine soziale Müslirösterei, wie er sein Unternehmen nennt. „Wir stellen keine Menschen ein, um Müsli zu rösten – sondern rösten Müsli, um Menschen einzustellen“, sagt Duffner. Weil seiner Meinung nach viel zu viele Menschen in unserer Gesellschaft von der Arbeitswelt ausgeschlossen sind, hat er zusammen mit Christian Schmidt (33) und Stefan Buchholz (53) eine Firma aufgebaut, die radikal sozial denkt. Die all jenen eine Chance geben will, die im ersten Arbeitsmarkt chancenlos sind: Menschen mit Suchterkrankungen, ohne festen Wohnsitz, ehemaligen Inhaftierten oder psychisch Kranken. „Wo andere Türen zuschlagen, macht Heyho sie auf. Aus der tiefen Überzeugung, dass jeder Mensch seinen Teil zum großen Ganzen beitragen kann“, sagt Duffner.
Er ist so ein Typ, der so was nicht nur dahersagt. Sondern meint, was er sagt. Der sich nicht verbiegen will, sein Ding macht. Egal was andere davon halten. Das war schon nach dem BWL-Studium so, als er einen Job gesucht hat – und beim Assessment-Center von Unilever in Turnschuhen und T-Shirt erschien. Als einziger Bewerber. Alle anderen trugen Anzug und Krawatte. So wie er selbst es bei Dutzenden von Vorstellungsgesprächen zuvor getragen hatte. Doch dieses eine Mal wollte er sich nicht verkleiden, nicht etwas vorspielen, das er gar nicht war. Sondern er selbst sein. Authentisch. Er hat den Job bekommen. Trotzdem oder gerade deswegen.
Jeden Arbeitsschritt machen die Mitarbeiter in Handarbeit
Er hält nichts von Konventionen, von Businessplänen, von Bedenkenträgern. Als er die Idee zu seiner sozialen Müslirösterei einem Lebensmittelexperten vorstellte, warnte ihn dieser: zu viele Nüsse, zu viele Himbeeren, zu teuer. Nicht geeignet für herkömmliche Maschinen. In Handarbeit abfüllen? Himmel – total unbezahlbar! Duffner und das Heyho-Team haben sich alle Bedenken angehört. Und dann gefreut. Weil sie die Argumente nicht abgebracht, sondern bestärkt haben. Weil sie wussten, dass sie ein einmaliges neues Produkt konzipiert haben. „Als wir gehört haben, dass unser Müsli nicht funktionieren kann, weil es nicht maschinell hergestellt und abgefüllt werden kann, war das nur eine Bestätigung, alles in Handarbeit herzustellen“, sagt Duffner.
Wenn er alles sagt, meint er auch alles. Jeden Arbeitsschritt. Vom Verteilen der Haferflocken auf dem Backblech über das Rösten im Ofen bis hin zum Mischen mit weiteren Zutaten, der Abfüllung in Gläser sowie dem Bekleben der Deckel. Die Anforderungen sind je nach Arbeitsschritt unterschiedlich hoch und reichen von simplen, monotonen Tätigkeiten bis hin zu anspruchsvollen Aufgaben. „Damit jeder die Chance hat, bei uns mitzuarbeiten, haben wir bewusst sehr einfache, niedrigschwellige Aufgabenbereiche geschaffen“, sagt Duffner. So wie das Bekleben der Deckel. Oder das Stempeln des Mindesthaltbarkeitsdatums auf das Etikett. „Klar könnte man das alles maschinell schneller, billiger und sogar besser machen – aber das ist eben nicht unser Ziel“, sagt Duffner entschieden.
Verdient werden mindestens zehn Euro pro Stunde
Die Haferbande von Heyho besteht inzwischen aus zehn Mitarbeitern. Fünf davon haben „besondere Biografien“, wie Duffner es nennt. Für andere mögen das gescheiterte Existenzen sein, vielleicht sogar Versager, für ihn nicht. Für ihn sind es einfach Menschen. Menschen mit besonderen Lebensgeschichten. Jeder verdient mindestens zehn Euro pro Stunde. Als Gutmensch will Duffner deswegen aber nicht bezeichnet werden. Er sieht sich einfach als jemanden, der etwas bewegen will, verändern möchte. Der zeigen will, dass unternehmerischer Erfolg und soziales Denken einander nicht ausschließen, sondern einhergehen können. Am meisten aber hofft er, dass er andere inspiriert und zum Nachahmen anregt. Denn er weiß, dass er nicht allen eine Chance geben kann, nicht alle auffangen kann.
Jede Woche kommen neue Bewerbungen mit neuen Lebensgeschichten und Schicksalen. Doch die Kapazitäten bei Heyho sind begrenzt. „Maximal 50 Prozent der Beschäftigen dürfen besondere Biografien haben, sonst funktioniert das System nicht“, sagt Duffner, der selbst zwei bis drei Tage bei Heyho im Einsatz ist. In der übrigen Zeit arbeitet er weiter als Berater für Ben & Jerry’s.
Ein Pappetikett weist auf das Projekt hin
Manchmal fragt er sich, ob es Heyho ohne Ben & Jerry’s überhaupt geben würde. Ob er ohne seine Tätigkeit bei dem Speiseeishersteller mit dem großen sozialen Engagement tatsächlich den Mut gehabt hätte, eine „nicht industrielle Revolution“ zu starten, wie er es nennt. Irgendwie hatte er zwar schon immer Bock, eine Lebensmittelfirma zu gründen. Irgendeine, egal was – Hauptsache, kein Müsli. Schließlich gab es schon viel zu viele Müslisorten, niemand brauchte da noch eine neue. Dachte er. Bis ihm irgendwann beim Frühstück auffiel, wie intensiv er die Müslipackung las – und wie ihn als Kind immer die Rückseite des Cornflakes-Kartons fasziniert hatte.
„In diesem Moment wurde mir klar, wie man über die Verpackungen Botschaften transportieren kann“, erinnert sich Duffner. Die Freunde kamen zu der Erkenntnis, dass es zwar schon Dutzende von Müslisorten im Supermarkt gibt, doch alle irgendwie gleich waren. Gleicher Geschmack, gleiche Zutaten, gleiche langweilige Verpackung. Aus diesem Grund fingen sie selbst an, Rezepturen zu entwickeln – und eine Verpackung zu kreieren. Eine Verpackung, über die man Aufmerksamkeit erregt, eine Geschichte erzählt, eine Botschaft transportiert. Aus diesem Grund hängt an jedem Glas ein Pappetikett, auf dem die Hintergründe von Heyho erklärt werden.
So etwas hatte Duffner schon während seiner Tätigkeit bei Ben & Jerry’s fasziniert, wohin er 2011 nach seiner Zeit bei Dove innerhalb Unilevers gewechselt hatte. Der US-amerikanische Speiseeishersteller, der seit dem Verkauf zum Unilever-Konzern gehört, ist für sein soziales Engagement bekannt und lässt unter anderem seine Kuchen in einer Bäckerei von sozial benachteiligten Menschen backen. „Die Kraft einer Marke zu nutzen, um sozial etwas zu bewirken – das hat mich so sehr begeistert, dass ich das auch machen wollte“, sagt Duffner.
Ende 2016 wurde die Firma gegründet
Den letzten Impuls bekam er, als er Buchholz kennenlernte, der 15 Jahre lang in der Wohnungslosenhilfe tätig war. Gemeinsam entwickelten sie das Konzept von Heyho, das für eine faire Art des Wirtschaftens steht. Der Name stammt aus einem Lied der Punkband Ramones und diente anfangs nur als Arbeitstitel, als Platzhalter. Doch dann schien ihnen der Schlachtruf „Hey Ho, Let’s Go“ so passend und überzeugend für ihre Mission, dass sie ihn als Firmennamen übernahmen. Ende 2016 wurde die Firma gegründet, schon ein paar Monate später stand Heyho in den Regalen von Mutterland. „Wichtig war uns, dass Heyho aufregend ist und die Produkte die Freude widerspiegeln, die wir in die Arbeit stecken“, so die Devise. Rausgekommen sind dabei Sorten wie „Saltcity Original“ mit salzig karamellisierten Nüssen, „Frühsportfreunde“ mit Himbeeren und Kokos sowie „Late Night Breakfast“ mit schokolierten Laugenbrezeln – die würden bei der maschinellen Abfüllung ansonsten zerbrechen.
Bei allen verrückten Ideen und hehren Zielen hat das Team jedoch nie die Zahlen aus dem Auge verloren. Schließlich sind zwei von ihnen Betriebswirte. Finanzielle Unterstützung bekommt Heyho nicht. Das war den Gründern wichtig. „Wir wollten kein staatlich gefördertes Sozialprojekt sein. Sondern zeigen, dass geschäftlicher Erfolg und soziales Handeln Hand in Hand gehen.“
150.000 Euro fließen jetzt in eigene Rösterei
Rund 50.000 Euro hat das Gründer-Trio in der Startphase investiert, aus eigenen Mitteln. Weitere 150.000 Euro fließen jetzt in den Aufbau der eigenen Rösterei. Nachdem Heyho bisher in einer Mietküche in Lüneburg produzierte, bezieht die Firma im Mai in der Nähe ihre eigenen Räumlichkeiten. 500 Quadratmeter groß und mit einem hochwertigem Stikkenofen. „Für das Geld hätte man sich auch zwei Porsche kaufen können“, sagt Duffner und lacht. Er selbst fährt einen VW-Bus. Den braucht er, bei vier Kindern. Ihm geht es nicht darum, reicht zu werden. Sondern zu zeigen, dass das soziale Geschäftsmodell funktioniert.
Er hat sich viel vorgenommen. 100.000 Gläser wollen sie dieses Jahr verkaufen. In mehr als 100 Läden ist Heyho inzwischen erhältlich – darunter Mutterland, Alnatura und ab Mitte Mai auch in mehr als 50 Budni-Filialen. Der Preis: 6,99 Euro für 300 Gramm. „Am Anfang hat man uns erzählt, dass niemand mehr als 3,50 Euro zahlen würde“, so Duffner. Doch die Kunden zahlen den Preis. Gerade eben ist eine Bestellung über 5000 Gläser eingegangen – für das Weihnachtsgeschäft. Irgendwann, möglichst bald, sollen 40 Leute bei Heyho arbeiten, 20 davon mit besonderen Biografien. Aber was Duffner fast noch wichtiger ist: Michael leitet heute den Versand. Duffner will ihn fragen, ob er bald drei Tage arbeiten kann.
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