Peking. Der Staat und die Wirtschaft in China setzen voll auf Überwachung. Doch die intelligenten Kameras werden für Bürger zu einem Problem.

Dass es ein Mann ist, erkennt die Kamerasoftware sofort. Beim Alter ist sie sich erst unschlüssig. Auf dem Bildschirm schwankt die Angabe zwischen 35 und 42. Doch dann pendelt sich die Zahl ein: 38 Jahre alt. Volltreffer. Die Software vermisst zudem das Gesicht, erstellt ein Bewegungsprofil und merkt sich spezielle Merkmale wie Leberflecken, die Form der Ohrmuscheln und die Augenfarbe. Erfasst die Kamera die Person das zweite Mal, spuckt die Software alle Daten sofort aus – dieses Mal ist alles korrekt.

„Jedes Gesicht hat seine speziellen Merkmale“, erläutert Ai Jiandan beim Besuch der Firma, für die sie arbeitet. „Wenn du vor einer unserer Kameras stehst, wissen wir sofort, wer du bist.“ Ai ist Mitarbeiterin bei Megvii, einem von Pekinger Studenten vor sechs Jahren gegründeten Start-up im Nordwesten von Peking, Chinas Silicon Valley.

Rechenzentren erstellen ausführliche Profile

Was in Berlin am Bahnhof Südkreuz noch in der Testphase steckt, ist in Peking längst Alltag. In U-Bahnhöfen, Einkaufszentren, auf belebten Straßen – zu Hunderten hängen intelligente Kameras an Pfeilern oder Straßenlaternen der chinesischen Hauptstadt und erfassen alles, was an ihnen vorbeiläuft oder -fährt. Die Kamera sendet die aufgezeichneten Daten an Rechenzentren, die die Daten analysieren und in Echtzeit ausführliche Profile erstellen. Diese werden gespeichert und sind für Behörden oder private Sicherheitsfirmen jederzeit abrufbar.

Die Firma Megvii hat sich auf Software zur Gesichtserkennung spezialisiert. Ein lukratives Geschäft. Das Unternehmen mit inzwischen 400 Mitarbeitern zählt private Sicherheitsfirmen zu seinen Kunden, Betreiber von Einkaufszentren und Luxuswohnanlagen, vor allem aber den chinesischen Staat. Der rüstet sicherheitstechnisch massiv auf – nicht zuletzt zur Kontrolle der eigenen Bürger. Wer schon mal negativ aufgefallen ist, kann mit der Megvii-Technik beim Betreten einer U-Bahn-Station sofort aufgehalten werden, erläutert Xie Yian, Sprecher von Megvii. „Die anderen Bürger müssen dann keine Angst mehr haben.“

„China befindet sich im Rausch der künstlichen Intelligenz“, stellt die China-Beratungsagentur Bürger Sino Consulting mit Sitz an der Berliner Friedrichstraße fest. Seitdem die chinesische Führung ihren „Entwicklungsplan für künstliche Intelligenz“ vorgestellt hat, boome diese Technik in der Volksrepublik, erklären die Experten. „China ist in diesem Bereich schon jetzt ein wichtiger Innovationstreiber und dabei größter Wettbewerber der USA.“ Europa und Deutschland hingegen seien im Vergleich „unbedeutend geworden“.

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    Kameras überwachen Passanten

    Intelligente Kameras, die jeden Passanten analysieren und speichern, sind dabei nur ein weiterer Höhepunkt der totalen Kontrolle, die Chinas Führung für ihre Bürger anstrebt. Sie arbeitet an einem System, das vorsieht, so gut wie alle Belange des öffentlichen Lebens zu erfassen und in eine Bürgerbewertung einfließen zu lassen. Von „Social Credit System“ oder „Citizen Scoring“ ist die Rede. Dieses System wird bereits in einer Reihe von Versuchsregionen ausprobiert.

    Vor allem über das Surfverhalten im Internet versucht sich der chinesische Staat ein Bild über seine Bürger zu machen – und will sie entsprechend benoten. Wer zum Beispiel über das Internet gesunde Babynahrung bestellt, erhält Pluspunkte. Wer sich Pornos ansieht oder zu viel Zeit mit Computerspielen verbringt, muss mit Abzügen rechnen.

    Vorgesehen ist, dass Nutzer mit mindestens 1300 Punkten die höchste Bewertung erhalten. Können sie diesen Stand einige Zeit lang halten, sollen ihnen zur Belohnung vergünstigte Kredite eingeräumt werden. Oder sie erhalten eine bessere Krankenversicherung. Wer hingegen unter einen Wert von 600 fällt, landet in der schlechtesten Kategorie. Betroffene müssen sogar befürchten, ihre Jobs zu verlieren. Das war die ursprüngliche Idee.

    Software merkt sich, welche Kleidungsstücke gefallen

    Doch nun, da sich die Gesichtserkennungstechnologie zu bewähren scheint, ist vorgesehen, auch das Verhalten der Bürger im Straßenverkehr, in Bahnhöfen, auf Flughäfen und in Einkaufszentren mit in die Bewertung aufzunehmen. Verstöße im Straßenverkehr oder Vordrängeln an der Kasse im Supermarkt – all das soll künftig negativ in die Bewertung einfließen.

    Gesichtsdatenbanken zum Abgleich hat der Staat längst, denn jeder chinesische Bürger hat einen Personalausweis mit einem biometrischen Foto. Doch auch die Konsum- und Finanzindustrie ist begeistert von den neuen Möglichkeiten. Die China Merchants Bank etwa, das sechstgrößte Geldhaus im Land, ermöglicht ihren Kunden das Geldabheben per Gesichtserkennung und Passworteingabe. Und Alibaba, der chinesische Internetgigant, der mit seinen Online-Handelsplattformen Taobao und Tmall inzwischen mehr Umsatz macht als Amazon, hat angekündigt, die Gesichtserkennungssoftware auch für seine Geschäftsfelder einzusetzen. Die Plattform Alibaba, die ihren Gründer Jack Ma zum Multimilliardär gemacht hat, hat bereits die Daten von fast 800 Millionen Nutzern gesammelt.

    Nun plant der chinesische Internethandelsgigant, Online-Verkäufe und reale Geschäfte miteinander zu kombinieren. Wer künftig Läden betritt, die mit Alibaba-Technik arbeiten, wird von Kameras erfasst. Die Software merkt sich, vor welchen Kleidungsstücken Kunden stehen bleiben, was sie anprobieren. All das fließt in ihr Benutzerprofil ein. Online können diesen Kunden dann noch mehr Produkte angeboten werden, die aufgrund der Datenauswertung auf ihre Vorlieben ausgerichtet sind. Datenschutz scheint für den Konzern kein Problem darzustellen.

    Als Alibaba-Marketingchef Chris Tung die Pläne in Schanghai vorstellte, wollte eine Journalistin wissen, wie es Alibaba mit der Privatsphäre halte. Der Manager verstand ihre Frage nicht. Oder er wollte sie nicht verstehen.