Berlin. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts darf auch künftig nur die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern Tarifverträge abschließen.

Das Tarifeinheitsgesetz gegen die Zersplitterung bei den Gewerkschaften bleibt trotz etlicher problematischer Punkte in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht wies am Dienstag die Klagen mehrerer Gewerkschaften gegen die seit rund zwei Jahren geltende Neuregelung weitgehend ab. Das Bundesverfassungsgericht verlangt jedoch einen besseren Schutz einzelner Berufsgruppen oder Branchen. Die Entscheidung war unter den Richtern umstritten: Zwei der sechs Richter gaben jedoch ein Sondervotum ab. Für sie verstößt dieses Verbot konkurrierender Tarifverträge gegen das Grundgesetz.

Das Gesetz sieht vor, dass nur die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern für einen Betrieb verhandeln darf, kleinere Gewerkschaften deren Abschlüsse nur übernehmen dürfen. Das höchste Gericht stellte zwei Punkte in den Mittelpunkt. Vizepräsident Ferdinand Kirchhof erklärte, dass die Tarifeinheit mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar sei.

Der Tarifvertrag mit der zahlenmäßig stärksten Gewerkschaft gilt

Zugleich verlangt sein Senat von der Bundesregierung bis Ende 2018 zusätzliche Regeln, die den Schutz der Interessen von Kleingewerkschaften wie die der Piloten, Krankenhausärzte oder Lokführer sicherstellen. Ansonsten gilt künftig im Konfliktfall der Tarifvertrag eines Arbeitgebers mit der Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Bestehende andere Tarifverträge werden dadurch verdrängt, wie es juristisch heißt.

Gleichwohl bestätigte das Verfassungsgericht die im Artikel 9 des Grundgesetzes festgeschriebene Koalitionsfreiheit. Das heißt, Arbeitnehmer können sich zusammenschließen und ihre Interessen vertreten, auch durch einen Arbeitskampf. Dieses elementare Recht sahen die Kläger durch das Tarifeinheitsgesetz bedroht.

Die kleinen Gewerkschaften sehen sich bestätigt

Deshalb betrachten sie das Urteil auch als einen Teilerfolg. „Für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) geht alles weiter wie bisher“, sagt deren Chef Claus Weselsky. Wenn die 2020 auslaufenden Vereinbarungen bei der Bahn nicht verlängert werden, kann die kampfeslustige GDL notfalls wieder mit Streiks ihre Forderungen untermauern.

Auch der Marburger Bund sieht sich bestätigt. „Mit dem heutigen Urteil wird der gewerkschaftliche Wettbewerb ausdrücklich geschützt“, erläutert der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft, Rudolf Henke. Seine Organisation werde auch in Zukunft als eigenständige Gewerkschaft Tarifverträge mit Arbeitgebern im Gesundheitswesen abschließen.

Das Tarifrecht ist extrem komplex

Der ebenfalls zu den Klägern zählende Deutsche Beamtenbund sieht das Streikrecht zwar nun auch als gesichert an, rechnet aber mit viel Arbeit für die Fachgerichte. Denn denen weisen die Karlsruher Richter wesentliche Aufgaben bei der Klärung von Konflikten konkurrierender Gewerkschaften zu. „Die Probleme bleiben“, befürchtet dbb-Chef Klaus Dauderstädt, der sogar eine Verschärfung des Wettbewerbs zwischen großen und kleinen Gewerkschaften heraufziehen sieht.

Bis Fachleute die gesamte Begründung der Entscheidung verarbeitet haben, und daraus Schlussfolgerungen ziehen können, wird wohl noch eine Weile vergehen. Denn das Tarifrecht ist extrem komplex. So bleibt noch die Kernfrage offen, wie sich die wichtigste Regelung des Gesetzes in der Praxis auswirken wird, wenn die Bundesregierung es wie verlangt nachbessert. Dabei geht es um die Mitgliedermehrheit im Betrieb. Diese zu ermitteln, ist keine einfache Aufgabe. Die Arbeitgeber sollen nicht wissen, welcher Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft ist. Die Gewerkschaft muss ihre Stärke oder Schwäche auch nicht preisgeben. In der bisherigen Form sollen unabhängige Notare die Auszählung übernehmen. Karlsruhe will nun Arbeitsrichtern diesen Job überlassen.

Es drohen unzählige Prozesse

Dies könnte zu jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Den Fachgerichten obliegt es zudem zu klären, ob die Interessen der Minderheitsgewerkschaft bei Tarifverhandlungen angemessen berücksichtigt wurden. Ist dies nicht der Fall, gilt der Tarifvertrag der kleineren Konkurrenzgewerkschaft weiter. „Unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen“, befürchtet die stellvertretende Verdi-Chefin Andrea Kocsis. Und Gewerkschaften müssten ständig nachweisen, dass sie über eine Mehrheit verfügen – vor, während und nach Tarifverhandlungen.

Ob nun das Ziel des Gesetzes erreicht wird, Anreize für eine kooperative Lösung der Tarifkonkurrenz zu setzen, erscheint offen. Auf diese Strategie setzt die Deutsche Bahn, deren beiden Hausgewerkschaften miteinander konkurrieren. Personalvorstand Ulrich
Weber ist in zähen Verhandlungen zuletzt das tarifpolitische Kunststück gelungen, dass derlei Wettbewerb auch ohne das Zwangsmittel Tarifeinheit zu allseits akzeptierten Ergebnissen führen kann.

Bislang ist das Gesetz noch nicht angewendet worden

Je nach Berufsgruppe oder Gewerkschaft werden einzelne Bausteine variabel gestaltet. „Die einen wollen eine Lohnerhöhung, die anderen weniger Arbeitszeit“, erläutert Weber. Auf diese Weise können berufsgruppenspezifische Interessen, die Spartengewerkschaften vornehmlich vertreten, in einen Vertrag für alle im Betrieb eingebunden werden.

Bislang ist das Tarifeinheitsgesetz noch nie angewendet worden. Von einem Fall berichtet jetzt dbb-Chef Dauderstädt. Die Beamtengewerkschaft sei bei manchen Krankenkassen die Minderheitsgewerkschaft. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) habe angekündigt, dass sie sich nur mit der Mehrheitsgewerkschaft Verdi an den Verhandlungstisch setzen wolle. In diesem Fall müsste sich die Tarifeinheit erstmals an der Wirklichkeit messen lassen.