Berlin. Vor einem Jahr hat sich der Handel auf das Ende der kostenlosen Plastiktüte geeinigt, nun verschwindet sie aus dem Alltag. Eine Bilanz.

Der Anblick ist fast vertraut: An der Kasse des Supermarkts liegt eine bunte Vielfalt an Einkaufsbehältern – Papiertüten in mehreren Größen, Beutel aus Baumwolle, aus Nylon und Jute, Einkaufskartons und Permanenttragetaschen, auf denen oft geschrieben steht, dass sie aus recyceltem Material hergestellt sind. Nur die gute alte Plastiktüte, die man nach einmaligem Gebrauch weggeworfen oder noch mal als Müllbeutel benutzt hat, die gibt es in vielen Geschäften nicht mehr.

Langsam, fast unmerklich hat sich die Plastiktüte aus unserem Alltag verabschiedet. Weitgehend stillschweigend haben wir akzeptiert, ja sogar begrüßt, dass wir für die Einwegplastiktaschen nun bis zu 50 Cent zahlen müssen oder eben gar keine mehr bekommen.

Und was machen wir? Es gibt drei Tütentypen: Der organisierte Einkäufer hat einen Korb, einen Rucksack oder eine Stofftasche dabei. Der nachlässige Spontaneinkäufer greift zur Alternativtüte an der Kasse – und stockt damit seine heimische Sammlung an bedruckten Mehrwegtaschen auf. Andere stopfen sich die gekauften T-Shirts bei der Frage „Möchten Sie eine Tüte für 20 Cent?“ lieber in die Handtasche.

Bekanntgabe der Zahlen verzögert sich

Vor einem Jahr hat der Handelsverband Deutschland (HDE) nach längerem Ringen mit Bundesumweltministerin Barbara Hendricks eine freiwillige Selbstverpflichtung unterzeichnet, nach der Plastiktüten nicht mehr umsonst ausgegeben werden dürfen. Dem Handelsverband zufolge machen mittlerweile 350 Unternehmen mit. Sie decken 41 Prozent des Handels ab.

Wie stark der Verbrauch seitdem zurückgegangen ist, hat die Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung (GVM) erhoben. Die Zahlen liegen dem Bundesumweltministerium seit April vor. Die Bekanntgabe aber verzögert sich, man sei noch mit der Auswertung beschäftigt, heißt es dort.

GVM-Chef Kurt Schüler schätzt, dass der Verbrauch der Tüten um ein Drittel abgenommen hat. Die Ergebnisse seien schwierig auf den Punkt zu bringen, weil mehrere Händler schon vor dem 1. Juni 2016 mit der kostenpflichtigen Tütenausgabe begonnen und andere nachgezogen hätten. Einige Händler erklären, noch mehr Einmaltüten einzusparen. Laut HDE geben Modehändler 50 bis 80 Prozent weniger Plastiktüten aus als vorher. „Die Vereinbarung läuft sehr erfolgreich“, sagt HDE-Geschäftsführer Kai Falk.

Handel feiert Rückzug der Tüte als Triumph

Das bestätigt auch eine stichprobenartige Umfrage dieser Redaktion. Von C&A und H&M über Rewe bis Saturn feiert man den Rückzug der Tüte als Triumph – und verbindet ihn geschickt mit Marketingkampagnen pro Nachhaltigkeit.

Die Plastiktüte hat kein gutes Image mehr. Dafür sorgen auch die drastischen Bilder von gestrandeten Pottwalen und toten Seevögeln, deren Mägen mit Plastiktüten und Mikroplastik vollgestopft sind. Das bekannteste Umweltproblem für Kinder und Jugendliche ist laut einer aktuellen Umfrage des Bundesforschungsministeriums die Verschmutzung der Meere. 91 Prozent der 1004 Befragten hatten etwa von Plastikmüll im Meer schon einmal gehört.

Die Kunden ziehen widerspruchslos mit

Auf die Wegwerftüten aus Plastik zu verzichten, verspricht Lob von Umweltschützern und ein sauberes Gewissen der Kunden. So verbannen immer mehr Handelsketten diese ganz aus ihrem Sortiment: Der Handelskonzern Rewe, der nach eigenen Angaben jährlich rund 140 Millionen Plastiktüten verkauft hat, verzichtet schon seit Juni 2016 auf die Einmaleinkaufshelfer. Es folgten Real, Lidl, Penny und andere. Zuletzt kündigten Saturn und Media Markt den Verzicht zum 1. April dieses Jahres an.

Und wie reagieren die Kunden? Für sie sei mittlerweile selbstverständlich, dass sie sich eigene Tragebehältnisse zum Einkaufen mitnehmen, sagt Rewe-Unternehmenssprecher Thomas Bonrath. Es sei ja nicht unbedingt damit zu rechnen gewesen, dass die Kunden widerspruchslos mitziehen, nachdem sie sich 50 Jahre lang ihre Waren in Plastiktüten gepackt haben.

Umweltschützer kritisieren Selbstverpflichtung

Den Umweltverbänden geht die freiwillige Selbstverpflichtung nach wie vor nicht weit genug. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) kritisiert, dass ein großer Teil des Handels nicht Mitglied im Verband ist und mit der Verpflichtung nichts zu tun hat. Zudem sei der Preis mit zehn Cent häufig zu niedrig, um abzuschrecken.

Die Verbände drängen deshalb weiterhin auf eine gesetzliche Abgabe für die Plastiktüte: „Die eingenommenen Gelder aus dem Verkauf von Tüten würden im Falle einer Abgabe nicht bei den Händlern bleiben, sondern könnten für Projekte zum Umweltschutz und Abfallvermeidung durch öffentliche Naturschutzstiftungen verwendet werden“, sagt Thomas Fischer, Leiter Kreislaufwirtschaft bei der DUH.

Greenpeace-Expertin Sandra Schöttner stimmt zu: Die Initiative führe „lediglich zu einer Teilreduktion der jährlich insgesamt sechs Milliarden in Deutschland ausgegebenen Plastiktüten“. Zudem ignoriere sie dünnwandige Obst- und Gemüsebeutel völlig.

Irland erhebt Steuer, Italien verhängt Verbot

Verwiesen wird auf das Paradebeispiel Irland, wo Plastiktüten mit einer Steuer belegt sind. 22 Cent plus Tütenpreis zahlen dort Kunden, die an der Supermarktkasse eine Plastiktüte wollen – diese kann dann auch mal über einen Euro kosten. In Italien sind Plastiktüten mittlerweile verboten. Nur noch Tüten aus biologisch abbaubarem Material dürfen ausgegeben werden. Eine bedeutsame Entscheidung in einem Land, in dem jeder Bürger rund 300 Tüten im Jahr benutzt hat. Auch in vielen afrikanischen Staaten ist die Benutzung von Plastiktüten untersagt.

Die Deutschen greifen offenbar gern zu alternativen Tragetaschen. Bei der Bekleidungskette C&A werden nach eigenen Angaben dreimal so viele Mehrwegbeutel verkauft, seitdem die Kunststoff-Klassiker kostenpflichtig sind. Viele vergessen dabei: Die Mehrwegbehältnisse sind für die Umwelt nur dann besser, wenn man sie oft benutzt.

Mehrwegtaschen vielfach benutzen

Laut Katharina Istel vom Naturschutzbund muss etwa eine Papiertüte dreimal, ein Beutel aus konventioneller Baumwolle sogar über 100-mal benutzt werden, um die Ökobilanz gegenüber der Plastiktüte auszugleichen – Grund ist deren aufwendige Herstellung.

Die Handelsketten sind kreativ, um ihre mal mehr mal weniger nachhaltigen Mehrwegtaschen mit ihrer Werbung darauf unter die Leute zu bekommen. „Das Interessanteste, was ich bisher gesehen habe, war eine sehr hochwertig verarbeitete dicke und stark bedruckte Papiertüte mit Kunststoffhenkeln und einer Art Regenponcho aus durchsichtigem Kunststoff“, sagt Istel. So etwas muss man ökologisch gesehen wohl sein Leben lang benutzen.