Berlin. Ökonomen haben errechnet, wie sich ein EU-Austritt der Briten auf die deutsche Wirtschaft auswirken würde. Die Einbußen wären horrend.

Ein Abschied Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) käme der deutschen Wirtschaft einer Studie zufolge teuer zu stehen. Im schlimmsten Fall drohten allein bis 2017 Einbußen von bis zu 45 Milliarden Euro, geht aus einer Untersuchung der DZ Bank hervor, die der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag vorlag. „Die negativen Effekte werden sich schon im zweiten Halbjahr deutlich zeigen“, sagte DZ-Bank-Ökonomin Monika Boven. „Wir rechnen in unserem Krisenszenario für Deutschland sogar mit einer leichten Rezession um die Jahreswende 2016/2017.“

Das Bruttoinlandsprodukt könnte im kommenden Jahr statt um 1,7 nur noch um 0,5 Prozent wachsen, in diesem Jahr statt um 1,8 nur um 1,4 Prozent. Bei einer jährlichen Wirtschaftsleistung von gut drei Billionen Euro entsprächen diese Wachstumsverluste rund 45 Milliarden Euro. „Für die deutsche Wirtschaft steht viel auf dem Spiel, denn Großbritannien ist einer der wichtigsten Handelspartner“, sagte Boven mit Blick auf das für den 23. Juni angesetzte Referendum, bei dem sich Umfragen zufolge ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gegnern und Befürwortern eines EU-Austritts (Brexit) abzeichnet.

Exportwirtschaft wäre stark betroffen

Mit einem Exportvolumen von knapp 90 Milliarden Euro setzte Deutschland im vergangenen Jahr so viele Waren im Vereinigten Königreich ab wie nie zuvor. Nur in die Vereinigten Staaten und nach Frankreich wurde mehr verkauft. Die Ausfuhren kletterten allein 2015 um fast 13 Prozent. „Sie trugen damit in weltwirtschaftlich schwierigen Zeiten erheblich zur Stabilisierung der deutschen Konjunktur bei“, erklärte Boven. „Die Auswirkungen eines EU-Austritts Großbritanniens wären für die deutsche Exportwirtschaft daher unmittelbar zu spüren.“

Mögliche Handelsbeschränkungen durch einen Brexit würden zwar erst in einigen Jahren wirksam werden. Dafür dürfte eine Konjunkturabschwächung auf der Insel rasch auf die deutschen Exporteure durchschlagen. „Ein Teufelskreis aus Währungsabwertung, Kursverlusten an Renten- und Aktienmärkten und verschreckten ausländischen Investoren könnte zu einer Schockstarre im Finanzsektor führen und über eine ‘Kreditklemme’ rasch die Realwirtschaft erreichen“, beschreibt Boven ein mögliches Szenario für Großbritannien, sollte es zum Brexit kommen.

Krise könnte sich ausweiten

Nicht auszuschließen sei zudem eine größere europäische Krise, die der Austritt der Briten nach sich ziehen könnte. Zweifel an Zusammenhalt und Zukunft der EU und der Euro-Zone könnten dann aufkeimen. „Die Auswirkungen solch einer von der Realwirtschaft losgekoppelten politischen Krise könnte deutlich schmerzhaftere Konsequenzen mit sich bringen“, sagte Boven. „Die politische Krise der Union würde voraussichtlich merkliche Unruhen an den Finanzmärkten hervorrufen.“

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Briten am Donnerstag einmal mehr von einem Ausstieg aus der EU gewarnt. Die Frage, ob ein Brexit eine Katastrophe wäre, beantwortete er am Donnerstag bei einem WDR-Europaforum mit „Ja“. Wenn die Briten hoffen sollten, dass sich bei einem EU-Austritt kaum etwas ändern würde und es weiter gehe wie bisher, so sei das falsch. „Wer den Tisch verlässt, darf nicht mehr an diesem Tisch essen“, sagte er mit Blick auf die Vorteile, die EU-Mitglieder sich untereinander einräumen.

Es könne sein, dass im Falle eines Brexit, den er aber nicht erwarte, auch andere EU-Staaten in diese Richtung gehen könnten, warnte Juncker. „Ich kann nicht ausschließen, dass der britische Ausstieg Lust auf mehr machen würde in anderen Ländern“.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hofft inständig auf einen Verbleib der Briten in der EU.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hofft inständig auf einen Verbleib der Briten in der EU. © dpa | Michael Kappeler

Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier redete den Briten beim WDR-Europaforum ins Gewissen. Er hoffe, dass die britische Bevölkerung beim bevorstehenden Referendum auch zum Ergebnis komme, dass eine Einbindung in Europa angesichts der vielen Krisen der bessere Weg sei, sagte Steinmeier am Donnerstag. „Ich hoffe, dass die Briten ... das auch spüren“, sagte er. Kontrollverluste drohten letztlich dem, „der nicht auf europäische Lösungen, sondern auf nationale Abschottung setzt“.

Ein Brexit würde laut Steinmeier viele schädliche Folgen haben. Auch der Konflikt um Nordirland drohe dann wieder neu befeuert zu werden. Zudem würde die Meinungsbildung in der EU „sehr viel schwieriger“ werden. „Ich bin ein sehr überzeugter Vertreter der These, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt und wünsche mir sehr, dass Großbritannien drinnenbleibt“, sagte er. (rtr/dpa)