Am stark befahrenen Nord-Ostsee-Kanal ringen die Experten um die Reparatur der Brunsbütteler Schleusen. Es ist ein Kampf gegen den Verfall.

Brunsbüttel. Der Schlepper "Max" hat Hemmungen. Die Bugtrosse löst sich nicht von der Trommel. Bei minus vier Grad und steifem Ostwind an den Schleusen von Brunsbüttel ist das Schleppseil festgefroren. Zwei Decksmänner müssen es in kraftraubender Arbeit freiziehen. Oben auf der Kaimauer warten schon ihre Kollegen vom Wasser- und Schifffahrtsamt Brunsbüttel, um die Trosse entgegenzunehmen und sie am Schleusentor zu befestigen. Die "Max" soll, unterstützt vom kleineren Schlepper "Butt", das kanalseitige Tor der großen Südschleuse aus seinem Schacht ziehen. In den kommenden Tagen wird es gegen das seeseitige Tor der großen Nordschleuse ausgetauscht. Das eine Tor ist sehr reparaturbedürftig. Das andere ein bisschen weniger. Durch das Auswechseln soll die Südschleuse wieder passierbar gemacht und die Vollsperrung das Kanals für Schiffe von mehr als 125 Metern Länge beendet werden.

Thomas Fischer, der Sprecher des Amtes, kennt das. Es ist das ganz spezielle Austauschprogramm der Experten vor Ort. Länger schon behilft sich die Behörde, die zur Wasserstraßenverwaltung des Bundes gehört, mit dem Durchtauschen von Toren, dem Einsatz von Reservematerial, der Wiederaufarbeitung auf der Werft. "Unsere Handwerker springen seit eineinhalb Jahren quasi von Notfall zu Notfall", sagt er.

Vor einer Woche war es wieder mal so weit. Der Elektromotor für die Bewegung des kanalseitigen Tors in der großen Südschleuse drohte durchzubrennen. Der Widerstand beim Öffnen und Schließen war zu groß. Ein klares Zeichen dafür, dass die Holzkufen, auf denen das Schleusentor bewegt wird, fast völlig abgefahren sind. Das Tor hätte im Granitboden der Schleusenkammer verkanten können. Wenn das geschieht, ist es mit zwei Wochen Sperrung wie bei diesem Mal wohl nicht getan.

Der Nord-Ostsee-Kanal ist die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt und der wichtigste Transitweg für Schiffe zwischen Ost- und Westeuropa. Gut 35.000 Handelsschiffe transportierten im vergangenen Jahr 104 Millionen Tonnen durch das Bauwerk aus der Kaiserzeit. Die Ingenieure leisteten am Kanal seinerzeit glanzvolle Arbeit. Die 1914 eingeweihten Schleusenkammern arbeiten noch heute überwiegend mit Originaltechnik.

Das Malheur an den Brunsbütteler Schleusen steht aber zugleich auch geradezu sinnbildlich für einen tiefen Widerspruch der heutigen Zeit: Die stets wachstumsgetriebene deutsche Volkswirtschaft vernachlässigt ein Element, das für ihren Erfolg zwingend nötig ist. Beim Verfall der weltweit einst besten Infrastruktur, von Straßen, Schienen, Brücken und Wasserbauwerken, ist allerorten Verdrängung am Werk: Die teure Sanierung öffentlicher Bauten wird von Verwaltungen und Politik gern verschoben. Kosten und Aufwand für die Verkehrswege sind in Zeiten knapper Kassen wenig populär. Doch die Rechnung geht nicht auf, weiß auch Amtssprecher Fischer: "Politikschelte, wie sie seit der Schleusensperrung in der vergangenen Woche im ganzen Land betrieben wird, bringt uns gar nichts", sagt er. "Auch mehr Geld würde uns kurzfristig nicht helfen. Man kann nicht in kürzester Zeit aufarbeiten, was in Jahrzehnten versäumt wurde."

Der Nord-Ostsee-Kanal verläuft auf einer Strecke von rund 99 Kilometern zwischen Brunsbüttel und Kiel-Holtenau. An beiden Enden arbeiten jeweils zwei große und zwei kleine Schleusenkammern. Die Brunsbütteler Schleusen sind weit stärker belastet als die Kieler. Sie müssen den Tidendruck der Nordsee, den Eintrag von Sedimenten und Eis mit der Strömung sowie eine um etwa ein Drittel höhere Zahl von Schleusungen verkraften. Viele Schiffe auf der Nordseeseite fahren durch die Schleusen nur bis zu den Brunsbütteler Kanalhäfen und dann wieder heraus.

Die Kieler Schleusen waren in den 1980er-Jahren grundsaniert worden, die Brunsbütteler hingegen nicht. "Deren Sanierung war zuletzt in den 90er-Jahren geplant", sagt Jann Petersen, Chef von United Canal Agency in Kiel, einer Agentur, die Kanalpassagen für Schiffe vermittelt. "Das Transportaufkommen war damals weniger als halb so hoch wie heutzutage. Zudem gab es die enormen Kosten für die Verkehrsprojekte nach der deutschen Einheit. Deshalb wurde die Rundumerneuerung auf unbestimmte Zeit verschoben."

Und bis heute nicht realisiert. Die Amtstruppe in Brunsbüttel kämpft gegen den Verfall, teils mit abenteuerlichen Mitteln. Das Mauerwerk bröckelt und reißt, die Technik macht immer öfter schlapp, derzeit liegt auch die Hydraulik an einer der beiden kleinen Schleusen brach. Die Tore der großen Kammern, die für die Schiffspassagen hin- und hergefahren werden, können teilweise nicht mehr auf ihren ursprünglichen Laufwerken rollen. Denn einige der Schienen in den Fundamenten der maroden Schleusenbecken sind aus ihren Verankerungen geplatzt.

Die betroffenen Tore werden während des Alltagsbetriebs im Notfallmodus bewegt: Des Kaisers Ingenieure hatten an den Seiten vorsorglich Holzbohlen angebracht, damit die Tore auch nach einem Ausfall der Rollen bewegt werden können. Nun werden sie so lange über den Schleusenboden geschleift, bis das Holz abgenutzt ist. Dann müssen die Bohlen auf einer Werft erneuert werden. Demnächst wollen die Techniker in Brunsbüttel unter den Toren mit einer neuartigen Konstruktion von Walzen operieren, um die untauglichen Schienenfahrwerke zu ersetzen.

Die wichtigsten Fachleute in diesen Tagen sind die Taucher des Amtes in Brunsbüttel. Tauchermeister Michael Lukat hat zwei Teams zur Verfügung. Bei jedem Wetter sind sie in den Schleusenkammern zugange. Sie müssen die Schäden an dem Bauwerk nicht nur feststellen, sondern sie unter Wasser auch reparieren. In Trockentauchanzügen werden sie von einer Arbeitsplattform aus in das 14 Meter tiefe, bräunliche Wasser abgeseilt. "Wir gehen nur dann nicht in den Kanal, wenn es eine geschlossene Eisdecke gibt", sagt Lukat mit Blick auf das frisch ausgebaute Schleusentor. "Unsere Sicht unten ist fast null." Technische Hilfsmittel wie etwa Ultraschall zur Analyse des Mauerwerks und der Schleusentore haben die Taucher nicht. "Nur unsere Finger im Neoprenanzug", sagt Lukat. "Wir haben deutlich mehr Arbeit als früher, und wir brauchen dringend Nachwuchs." Externe Kräfte als Verstärkung bei Engpässen helfen wenig: "Die Taucher müssen die Anlage exakt kennen."

Beim Improvisieren haben die Schleusenpfleger mittlerweile einige Fertigkeit entwickelt. Die werden sie in den kommenden Jahren weiterhin brauchen. Um die beiden großen Kammern für die Generalüberholung zu entlasten, soll auf der Schleuseninsel eine dritte große Kammer neu gebaut werden. Den ersten Spatenstich für das Projekt setzte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) im April 2012. Eine Ausschreibung für das Bauwerk aber gibt es bis heute nicht. Für einige der Bauteile und -arbeiten müssen europaweit Angebote eingeholt werden. Die Entwürfe der Ausschreibungsunterlagen waren bereits fertig, doch das Bundesverkehrsministerium hielt sie Ende des vergangenen Jahres zurück. Die ursprünglich kalkulierten Kosten von 300 Millionen Euro sind mittlerweile auf 360 Millionen Euro gestiegen. Deshalb muss sich der Haushaltsausschuss des Bundestages erneut mit dem Thema beschäftigen, voraussichtlich Anfang April. Experten vermuten, dass 2014, eher aber 2015 mit dem Bau der Schleusenkammer begonnen wird. "Der Bau selbst wird fünf bis sechs Jahre dauern", sagt Fischer. Danach können die beiden alten Kammern saniert werden. Für jede von ihnen werden zweieinhalb Jahre Bauzeit veranschlagt - wenn nichts dazwischenkommt.

Die Schifffahrtsbranche stellt sich deshalb bereits auf Behinderungen an den Brunsbütteler Schleusen bis in das kommende Jahrzehnt hinein ein, schlimmstenfalls auch auf weitere Vollsperrungen für größere Schiffe. "Für Exporteure zum Beispiel von Getreiden oder Kraftstoffen ist das eine ganz schwierige Lage", sagt Kanalmanager Petersen von United Canal Agency. "Sie müssen für den Abtransport ihrer Güter kleinere Schiffe in Kauf nehmen, was viel weniger wirtschaftlich ist."

Der wichtigste Kunde im Nord-Ostsee-Kanal, die Reederei Unifeeder in Hamburg, hat ihre Preise kurzfristig bereits erhöht. Die Containerzubringerschiffe des Unternehmens, die zwischen Hamburg und der Ostsee pendeln, müssen während der Sperrung des Kanals um das dänische Skagen fahren. Das bedeutet, je nach Ziel, um fünf bis 20 Stunden längere Fahrzeiten, einen höheren Brennstoffverbrauch und höhere Charterkosten für die Schiffe. "Kurzfristig akzeptieren unsere Kunden die Preisaufschläge, aber dauerhaft nicht", sagt Unifeeder-Deutschland-Chef Timm Ulrich Niebergall.

Auch potenzielle Profiteure der Notlage melden sich bereits zu Wort. Dietmar Eifler (CDU), Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, wirbt für die Häfen Rostock und Wismar, um Ladung aus der Ostsee oder auf dem Weg dorthin umzuschlagen. Der Umweg um Skagen koste die Reedereien gut 70.000 Euro zusätzlich, sagt er: "Diese Mehrkosten lassen sich vermeiden, wenn die Ladung in Mecklenburg-Vorpommern gelöscht wird." Zwar ist es eher unrealistisch, dass Reedereien Ladung auf dem teuren Landweg transportieren, anstatt um Skagen nach Hamburg zu fahren. Aber Eifler irritiert das nicht: "Wismar und Rostock", schwärmt er, "sind sehr gut an das überregionale Verkehrsnetz angeschlossen."