Der Uno-Menschenrechtler und Soziologieprofessor Jean Ziegler fordert Verbote für Biosprit und die Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln.

Hamburg. Jean Ziegler gibt nicht auf. Der Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates kämpft seit Jahren gegen den Hunger auf der Welt. Der Schweizer Soziologieprofessor macht vor allem die ungleiche Verteilung des Reichtums sowie Konzerne und Spekulanten für die Misere verantwortlich. Hunger ist für ihn kein Schicksal, sondern das Werk von Menschen, das von Menschen besiegt werden kann. Der 78-Jährige war bis 2008 acht Jahre lang als erster Sonderberichterstatter der Uno für das Recht auf Nahrung in Krisenländern unterwegs. In seinem neuen Buch "Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt" beschreibt Ziegler das Ausmaß der Katastrophe, nennt Ursachen und Verantwortliche. Das Abendblatt sprach mit Ziegler über die Problematik und was jeder Einzelne dagegen tun kann.

Hamburger Abendblatt: Herr Ziegler, was ist Ihr Leibgericht?

Jean Ziegler: Felchenfilet aus dem Genfer See mit Zitrone.

Klingt delikat. Können Sie gutes Essen überhaupt noch genießen, im Wissen, dass am anderen Ende der Welt gerade ein Mensch an Hunger stirbt?

Ziegler: Schon. Nahrung liefert die Lebensenergie. Bertold Brecht schreibt: "Das Recht des Menschen ist's auf dieser Erde, da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein. Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein, ist des Menschen nacktes Recht auf Erden."

Hunger ist seit Jahrhunderten ein ungelöstes Problem. Die Menschen schicken Satelliten ins All, schaffen es aber nicht, alle Bürger auf der Erde satt zu machen. Ist Hunger also doch ein Naturgesetz?

Ziegler: Nein, Hunger ist kein schicksalhaftes Geschehen, sondern ein organisiertes Verbrechen. Die Weltlandwirtschaft könnte heute zwölf Milliarden Menschen normal ernähren - und damit fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Dennoch verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. 57 000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger. Eine Milliarde Menschen sind permanent schwerst unterernährt, die meisten in Asien und Afrika. Hunger ist heute kein Problem der Produktion. Der Grund ist, dass viele Menschen keinen Zugang zu Nahrung haben. Die Welt quillt vor Reichtum über. Das tägliche Massaker des Hungers ist das Werk von Menschen und kann von Menschen besiegt werden. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.

Die Uno hat 1948 das Recht auf Nahrung als Menschenrecht festgeschrieben. Doch dieses wird wie kein anderes missachtet. Ist die Uno ein zahnloser Tiger?

Ziegler: Die Uno ist ruiniert, sie ist eine jämmerliche Weltmacht. Heute kontrollieren zehn internationale Konzerne etwa 85 Prozent der gehandelten Grundnahrungsmittel. Diese Konzerne entscheiden - über die Preisbildung - jeden Tag, wer isst und lebt oder wer hungert und stirbt. Sie haben eine Macht, wie sie nie ein Kaiser, König oder Papst in der Geschichte hatte. Ihre Macht ist größer als die der Staaten. Die Uno ist als Staatengesellschaft gegenüber diesen Konzernen wie gelähmt.

Sind Konzerne die wahren Herrscher?

Ziegler: Ein Beispiel: Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatte 2011 vor dem G20-Gipfel der großen Industrienationen in Cannes angekündigt, den Vorschlag zu machen, Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel zu verbieten, weil sie die Preise hochtreiben. Doch auf dem Gipfel war davon keine Rede mehr, Sarkozy hatte den Vorschlag zurückgezogen. Warum? Weil die Konzerne zwischenzeitlich bei den Staaten interveniert hatten. Dies zeigt, wie die Staaten durch die Konzerne instrumentalisiert werden.

Sollte die Spekulation mit Nahrungsmitteln untersagt werden?

Ziegler: Sie muss verboten werden. Allerdings muss man differenzieren: Terminkontrakte hat es immer gegeben - und diese sind richtig. Dort wird festgelegt, zu welchem Preis beispielsweise ein argentinischer Produzent seine Ernte im Herbst verkaufen kann und ein Müllerbetrieb aus den USA sie kaufen kann. Doch seit der Finanzmarktkrise setzen Hedgefonds zur reinen Spekulation auf den Getreidemarkt. So bietet Goldman Sachs Tausende Derivate auf Soja, Mais oder Weizen an. Die Bank macht damit unerhörte Profite, ohne je die Waren zu liefern. Zugleich treiben sie die Preise für Nahrungsmittel in astronomische Höhen.

Wie können gute von schlechten Spekulanten unterschieden werden?

Ziegler: Wer die Waren nicht produziert und liefert, wird vom Markt ausgeschlossen. Dieses Modell hat der Unctad-Chefökonom Heiner Flassbeck entwickelt - und ist aus meiner Sicht die beste Lösung: Die Staaten müssten dazu ihre nationalen Börsengesetze nur um einen Satz ergänzen.

Sollte auch Biosprit verboten werden?

Ziegler: Um 50 Liter Bioethanol für einen Autotank herzustellen, müssen 352 Kilo Mais verbrannt werden. Von 352 Kilo Mais lebt ein Kind in Sambia oder Mexiko, wo Mais das Grundnahrungsmittel ist, ein Jahr lang. Eine Tankfüllung nimmt damit also einem Kind die Nahrung für ein ganzes Jahr weg. Das muss verboten werden. Nahrungsmittel auf einem Planeten zu verbrennen, wo täglich Tausende Menschen verhungern, ist ein Verbrechen.

Im Titel ihres Buchs "Wir lassen sie verhungern" machen sie alle Bürger zu Mitschuldigen. Was kann denn beispielsweise eine Sekretärin oder ein Verkäufer in Hamburg tun, um den Hunger in Afrika oder Asien zu bekämpfen?

Ziegler: Vieles. Als Konsument können Sie auf gentechnisch veränderte Produkte verzichten, um die Marktmacht der Agrarkonzerne zurückzudrängen. Sie können weniger Fleisch essen: Ein Viertel der Weltgetreideernte von zwei Milliarden Tonnen wird heute an Schlachtvieh verfüttert. Wer weniger Fleisch isst, gibt Nahrung für die Ernährung von Menschen frei. Verbraucher können fair gehandelte Produkte aus Dritte-Welt-Ländern kaufen, was den Bauern im Süden hilft. Jeder sollte möglichst regionale und saisonale Produkte kaufen. Trauben aus Chile im Winter in Hamburg zu essen ist absoluter Unsinn. Außerdem kann man Hilfsorganisationen mit Spenden unterstützen. Dies alles hilft, dass eine Kräfteverschiebung möglich wird.

Was muss national getan werden?

Ziegler: Deutschland ist die dritte Wirtschaftsmacht der Welt mit der lebendigsten Demokratie in Europa. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Die Bürger können die Regierung zwingen, das Börsengesetz zu ändern, die Export-Subventionspolitik und das Agrardumping der EU zu stoppen, die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder voranzubringen und vieles mehr. Die mörderischen Mechanismen des Hungers sind menschengemacht und können von Menschen gebrochen werden.

Es muss aber auch ein Wille da sein, die Zustände zu ändern.

Ziegler: Voraussetzung ist der Aufstand des Gewissens in den westlichen Herrschaftsländern. Schauen Sie, was im Sahel passiert, wo seit fünf Jahren Dürre herrscht. Man sieht dort Kinder im Staub liegen, sagt, das ist ja furchtbar. Das war's. Aber keiner fragt: Warum gibt es dort keine Bewässerung? Warum haben die Staaten keine Notvorräte gekauft? Diese Länder haben nicht das Geld, Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt zu astronomischen Preisen zu kaufen. Das muss geändert werden. Es ist doch absurd, für 18 Milliarden Dollar eine Sonde auf den Mars zu schicken, wenn man mit demselben Betrag den Hunger aus der Welt schaffen könnte.

Wie kann noch geholfen werden?

Ziegler: In Schwarzafrika sind nur 3,8 Prozent der Böden bewässert - ansonsten herrscht eine Regenlandwirtschaft wie vor 3000 Jahren. Es gibt keinen mineralischen Dünger, kaum Zugtiere, fast keine Traktoren, keine selektierten Samen. Die Produktivität in Niger, Benin oder Mali ist sehr niedrig - mit nur 600 bis 700 Kilo Getreide auf einen Hektar. In Baden-Württemberg liegt sie bei 10 000 Kilo - nicht, weil der deutsche Bauer so fleißig ist, sondern weil er alle Hilfsmittel hat.

Sie waren als erster Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung tätig. Sind Sie frustriert, dass Sie trotz internationaler Organisation im Rücken das Problem nicht lösen konnten?

Ziegler: Mein Buch ist der Erlebnisbericht dieser Zeit. Endlich kann ich frei reden. Ich kann sagen, wer die Halunken unter den Staatschefs sind, wo ich Menschen verraten habe, weil ich ihnen falsche Hoffnungen gemacht habe, aber auch, wo es reelle Hoffnung gibt. "Wir lassen sie verhungern" ist deshalb auch ein Buch der Hoffnung.

Glauben Sie, dass es irgendwann eine Welt ohne Hunger geben wird?

Ziegler: Meine Hoffnung baut auf die aktive Zivilgesellschaft. Sie ist das neue planetarische Subjekt. Che Guevara sagte: "Die stärksten Mauern fallen durch ihre Risse." International gibt es heute viele neue soziale Bewegungen - wie Attac, Greenpeace, La Via Campesina (landlose Bauern) und andere. Sie alle werden dazu beitragen, die Konzernweltdiktatur entscheidend zu schwächen. Dabei geht es nicht um politische Richtungsfragen wie links oder rechts, sondern um den moralischen Imperativ, die ungerechte Verteilung zu beenden. Es geht um Vernunft, Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Es gibt für freie Bürger keine Entschuldigung, nichts zu tun. Der Schriftsteller Georges Bernanos schreibt: "Gott hat keine anderen Hände als die unseren." Entweder wir ändern die kannibalische Weltordnung, oder sonst tut es niemand.