Verbraucherschützer und Foodwatch-Chef Thilo Bode wirft der Lebensmittelindustrie eine systematische Kundentäuschung vor.

Hamburg. Zuckerbomben als vermeintlich gesunde Kinderdrinks und Biolimonade ohne echte Früchte: Als Chef der Verbraucherorganisation Foodwatch kämpft Thilo Bode seit Jahren gegen die Tricks der Nahrungsmittelindustrie. In seinem neuen Buch "Die Essensfälscher" (S. Fischer, 224 Seiten, 14,95 Euro) zeigt er auf, wie Täuschungsstrategien der Konzerne funktionieren und wie sich Kunden dagegen schützen können.

Hamburger Abendblatt:

Herr Bode, Sie werfen der Lebensmittelindustrie vor, dass sie die Verbraucher nach Strich und Faden betrügt. Wo gehen Sie selbst eigentlich noch mit gutem Gefühl einkaufen?

Thilo Bode:

Ich bin ein absoluter Durchschnittsverbraucher, gehe sowohl auf den Wochenmarkt, als auch in den Supermarkt oder zum Discounter. Ein gutes Gefühl habe ich dabei nicht.

Wann fühlten Sie sich denn zuletzt so richtig über den Tisch gezogen?

Bode:

Mich persönlich stört besonders die schleichende Aromatisierung unserer Nahrungsmittel. Es gibt in Europa fast 3000 zugelassene Aromastoffe, von denen über 500 noch nicht auf Nebenwirkungen überprüft wurden. Durch Aromen kann die Industrie billigere Rohware verwenden und somit Geld bei der Herstellung sparen. Aber wenn ich einen teuren Frischkäse kaufe, dann will ich eben einen mit hochwertigen Zutaten essen und nicht ein aromatisiertes Produkt. Das ist nur ein kleines Beispiel der Strategie der Konzerne, die von dreister Mogelei bis hin zu Körperverletzung durch Irreführung reicht.

Körperverletzung ist aber ein ziemlich heftiger Vorwurf.

Bode:

Der Vorwurf trifft zu, wenn wir uns die dramatische Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen vergegenwärtigen. Die Zahl der übergewichtigen Jugendlichen und Kinder in Deutschland hat seit den 90er-Jahren um 50 Prozent zugenommen. Und das liegt an einer zu fetthaltigen und zuckerreichen Nahrung.

Gut, aber was kann die Industrie dafür, wenn Eltern ihre Kinder nicht richtig ernähren?

Bode:

Die Industrie begeht Körperverletzung, wenn sie zum Beispiel mit einer "Vollkorngarantie" und dem Hinweis auf den Vitamingehalt Frühstücksflocken bewirbt, die nichts als versteckte Zuckerbomben sind. Der Gipfel der Verlogenheit ist es, wenn mit solchen Produkten noch Fußbälle oder Fan-Trikots zu gewinnen sind oder Unternehmen wie Ferrero das Kindersportabzeichen sponsern. Der Grund für das grassierende Übergewicht ist nicht der Mangel an Bewegung, wie die Lebensmittelindustrie suggerieren will, sondern die zu hohe Kalorienaufnahme. Um eine Handvoll Cini Minis von Nestlé mit einem Zuckergehalt von knapp 33 Prozent abzuarbeiten, müsste ein Zehnjähriger eine dreiviertel Stunde joggen.

Man muss aber doch von einem mündigen Verbraucher erwarten können, dass er erkennt, dass es sich bei gesüßten Lebensmitteln um Zuckerbomben handelt.

Bode:

Wir sprechen hier nicht von Süßigkeiten - bei denen ist jedem klar, dass man sie nur in Maßen essen sollte. Bei vielen Produkten erkennt der Kunde aber nicht auf einen Blick, wie viel Zucker darin steckt. Nehmen Sie nur den Monte Drink von Zott, ein Milchgetränk für Kinder. In einer kleinen Flasche stecken acht Stück Würfelzucker, mehr als in der gleichen Menge Cola. Eine mündige Entscheidung erfordert transparente Informationen. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben.

Aus Ihrer Sicht sind also nicht die Bürger für ihre Ernährung verantwortlich, sondern die Nahrungsmittelhersteller?

Bode:

Alle Beteiligten müssen das verantworten, für das sie tatsächlich zuständig sind. Der Job der Konzerne ist es, gute und ehrliche Nahrungsmittel zu produzieren. Sie sind nicht für den Schulsport verantwortlich. Die Verbraucher tragen die Verantwortung, auf der Basis von Transparenz ihre Kinder ausgewogen zu ernähren. Dazu benötigen sie vor allem ein einfaches System, mit dem sie auf einen Blick Produkte miteinander vergleichen können. Ein solches System wäre die Lebensmittelampel, die mit drei Farben einen hohen, mittleren oder niedrigen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt anzeigt. Diese Kennzeichnung fürchtet die Industrie natürlich. Die Hersteller setzen stattdessen darauf, dass sich die Verbraucher die notwendigen Informationen mühsam selbst zusammensuchen müssen und damit scheitern. Vor Kurzem habe ich an einem Einkaufswagen von Rewe eine Lupe hängen sehen. Eine Lupe, ich bitte Sie!

Die ist sicher als Service für ältere Kunden gedacht, die das Kleingedruckte auf der Packung nicht mehr so gut lesen können.

Bode:

Das ist gut und pervers zugleich. 85 Prozent einer Verpackung bestehen aus irreführender Werbung. Es gäbe genug Platz, um alle Verbraucher, auch ältere, bequem zu informieren. Das ist eine Unverschämtheit! Als Kunde erwarte ich, dass die Aufschrift auf einer Verpackung so groß ist, dass alle Verbraucher sie ohne Lupe lesen können.

Nun gibt es aber auf den meisten Lebensmitteln eine Angabe über die enthaltenen Kalorien und den Anteil am Tagesbedarf, der damit abdeckt wird.

Bode:

Aus der Wahrnehmungspsychologie wissen wir, dass die Verbraucher mit solchen Prozentangaben wenig anfangen können. Nicht die absolute, schwer verständliche Information, sondern die vergleichende, unmittelbar verständliche ist entscheidend.

Was hat die Industrie aus Ihrer Sicht eigentlich davon, wenn sie die Verbraucher täuscht und für dumm verkauft?

Bode:

Profit. Die großen Nahrungsmittelkonzerne sind kapitalmarkt- und renditegetrieben. Doch mengenmäßig ist in den Industrieländern die Wachstumsgrenze erreicht, wir können alle nicht mehr essen, als der Magen fasst. Deshalb brauchen die Konzerne Innovationen, neue Wachstumssegmente. Die gibt es aber nicht. Die letzte echte Innovation im Lebensmittelbereich war die Tiefkühlkost. Unter dem Druck des Wettbewerbs entwickeln die Unternehmen deshalb mit Milliarden beworbene Scheininnovationen, die nicht besser, sondern schlechter und oft teurer sind. Ein gutes Bei-spiel sind Lebensmittel mit einem vermeintlichen gesundheitlichen Zusatznutzen. Nestlé will mit diesem Functional Food in einigen Jahren 50 Prozent des Umsatzes erzielen.

Was ist denn so schlimm daran? Einerseits werfen Sie den Herstellern ihre Zuckerbomben vor, und wenn sie dann gesündere Produkte erforschen und neue Produkte an den Markt bringen, ist es auch wieder nicht richtig.

Bode:

Wenn man krank ist, sollte man zum Apotheker oder zum Arzt gehen. Wenn man Hunger hat, in den Supermarkt. Es ist fragwürdig, teilweise auch gefährlich, wenn Menschen ohne eine vernünftige Diagnose und entsprechende Dosierungsanleitung beispielsweise zu Margarine greifen, die den Cholesterinspiegel beeinflusst. Außerdem halten die Produkte nicht das, was sie versprechen. Danone suggeriert, Actimel würde vor Erkältungen schützen. Tut es aber nicht. Und jeder Naturjoghurt stärkt auch die Abwehrkräfte, ohne eine versteckte Zuckerbombe zu sein wie Actimel.

Reichen die bestehenden Gesetze nicht aus, um die Verbraucher vor solchen Täuschungen zu schützen?

Bode:

Absolut nicht. Aber um die Regeln zu ändern, müssen sich die Verbraucher auflehnen, sonst passiert nichts. Dazu brauchen sie effektive Rechte. Zum Beispiel ein Verbandsklagerecht, das es uns ermöglicht, Lebensmittelgesetze gerichtlich zu hinterfragen, oder ein wirksames Informationsrecht, das es Verbrauchern ermöglicht, sich bei Unternehmen nach verwendeten Inhaltsstoffen zu erkundigen. Das Informationsgesetz von Horst Seehofer funktioniert nicht. Entweder erhält man überhaupt keine Auskunft oder erst nach Jahren und dem massivem Einsatz von juristischen Mitteln.

Wünschten Sie sich mehr Unterstützung von Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner?

Bode:

Frau Aigner fungiert als Dienstleisterin der Agrar- und Lebensmittelkonzerne.

Sie nutzt ihre Möglichkeiten als Ministerin nicht im Sinne der Verbraucher?

Bode:

Das Problem liegt weniger in der Person von Frau Aigner, sondern in der Struktur ihres Ministeriums, bei dem es sich um eine demokratische Missgeburt handelt. Frau Aigner ist in erster Linie Landwirtschaftsministerin und muss als solche am Kabinettstisch die Interessen der Hersteller vertreten. Diese stehen aber in einem natürlichen Widerspruch zu den Interessen der Verbraucher, die sich möglichst günstige und gleichzeitig hochwertige Lebensmittel wünschen. In der Praxis führt das dazu, dass in Deutschland kaum Entscheidungen gegen die Interessen der Industrie getroffen werden.

Was sollen die Kunden denn jetzt machen? Auf Bio umsteigen?

Bode:

Bioprodukte sind ebenfalls keine Lösung, die Konzerne haben Bio als zusätzliche Wachstumsnische gekapert. Nehmen Sie die gerade vom Markt genommene Biolimonade Beo Heimat Apfel & Birne von Carlsberg. Die Brause hatte noch nie einen Apfel oder eine Birne gesehen, sondern enthielt Aroma, das mithilfe von Bakterien aus Holzabfällen hergestellt werden kann. Trotzdem trug das Produkt das staatliche Biosiegel.

Ist das Internet ein Mittel, um die Macht der Verbraucher zu stärken?

Bode:

Das Netz ist ein unverzichtbares Instrument für Verbraucherorganisationen wie Foodwatch. So ist nach E-Mail-Protest der Kunden die Rezeptur des mit Zusatzstoffen versetzten Kindergetränks Frucht-Tiger von Eckes-Granini grundlegend verbessert worden. Aber der Protest gegen einzelne Markenprodukte reicht natürlich nicht aus. Letztlich müssen sich die Spielregeln des Marktes zugunsten der Verbraucher ändern.