Werner Otto, einer der großen deutschen Unternehmer, wird am Donnerstag 100 Jahre alt. Das Porträt eines außergewöhnlichen Mannes.

Berlin. Die Klavierstunden sind kein Erfolg. Nach einem Jahr teilt der Lehrer den Eltern mit, der Sohn habe keinerlei Fortschritte gemacht. Danach ist Schluss mit der Quälerei. Latein und Griechisch sind dem Jungen auch ein Gräuel. "Diesen Mist", sagt er sich bockig, "brauchst du nie wieder!" Er träumt nämlich davon, Schriftsteller zu werden. Flaubert und Balzac sind seine Helden. Nachts, wenn der Bruder und die kleinen Schwestern schon im Bett liegen, schreibt er an seinem ersten Roman.

Wie man weiß, ist aus Werner Otto doch kein Romancier geworden. Vielleicht weil der Krieg mit seinen Träumen aufräumte, vielleicht weil der Kaufmannssohn aus dem brandenburgischen Seelow am Ende doch zu pragmatisch veranlagt war. In die Geschichte der Bundesrepublik hat er sich trotzdem eingeschrieben: als Gründer eines Versandhauses, das zum größten der Welt aufstieg.

Am Donnerstag, den 13. August 2009, wird er 100 Jahre alt. Für die Ärzte, sagt Maren Otto, sei ihr Mann ein medizinisches Wunder. "Es fehlt ihm nichts. Er selbst sagt: 'Ich bin nur alt!'"

Seit Dienstag ist Werner Otto Ehrenbürger Berlins, am Donnerstag wird er im Grunewald mit Freunden feiern. Die fünf Kinder werden da sein und die zwölf Enkelkinder, dazu ein amtierender und ein paar ehemalige Ministerpräsidenten, die Köhlers und die Kanzlerin, und vermutlich wird es auch Crème Caramel geben. Die kommt im Hause Otto - gesunde Ernährung hin oder her - nämlich zweimal täglich auf den Tisch.

Ein erstes und besonders schönes Geburtstagsgeschenk liegt allerdings schon seit ein paar Tagen in Werner Ottos Arbeitszimmer. Es ist die im Societäts-Verlag erschienene Biografie "Der Jahrhundert-Mann", in der Matthias Schmoock vom unaufhaltsamen Aufstieg eines Menschen erzählt, der von sich sagt: "Das Einzige, was mich strapaziert, ist Passivität." Oder: "Bringe jedes Problem auf einen einfachen Nenner."

Das hat Werner Otto zweifellos sein Leben lang getan. Zum Beispiel, als die Holzschuhe, die er nach Kriegsende von Werftarbeitern und Schlachtern in Schnelsen zusammenbasteln ließ - seine sogenannten "Zweischnaller" -, wider Erwarten doch kein richtiger Verkaufsschlager wurden. Da habe er begriffen, meinte Otto Jahre später, dass man am Markt nur mit Qualität konkurrenzfähig sein könne. Immerhin rettete er aus dem Flop mit seinen Doppelschnallern 6000 Mark. Das Startkapital für den "Werner Otto Versandhandel", den er am 17. August 1949 bei der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr anmeldete.

Ottos Optimismus war ungebrochen und nach wie vor "von Fachwissen nicht angekränkelt", wie er später launig zu sagen pflegte. Als es darum ging, die Kataloge zu betexten - der erste erschien im Sommer 1950 und hatte 14 Seiten -, griff der verhinderte Schriftsteller selbst zum Stift: "Sehr oft kommt ein Otto-Versand-Paket ins Haus, und mit strahlender Freude werden dann gerade jene anmutigen Gaben betrachtet, die die geheimen Wünsche jeder Frau erfüllen. Duftige, elegante Damenwäsche, praktische Garnituren und entzückende Nachthemdchen." Flaubert und Balzac hätten ihr Vergnügen gehabt! Die Werbespezialisten, die Werner Otto später einstellte, hatten es nicht immer: Mitunter wurden zwei pro Jahr verschlissen. Vermutlich nicht zu Unrecht. Einer hatte getextet: "Herren-Unterhosen - auch für die Arbeit geeignet!"

Werner Otto ist nicht der Erfinder des Versandgeschäfts. 1950 gab es ein paar Hundert seinesgleichen. Aber er ist der unbestrittene König des Metiers. Während die Otto-Gruppe selbst im Krisenjahr 2008 noch zehn Milliarden Euro Umsatz und 321 Millionen Euro Gewinn machte, kämpft Quelle, der letzte große deutsche Konkurrent, bekanntlich ums nackte Überleben.

Helmut Schmidt hat einmal über den Unternehmer Werner Otto gesagt, er bündele "die hellen Seiten der jüngeren deutschen Geschichte", und er sei ein Mann "mit Pflichtgefühl für die res publica", also für das Gemeinwesen. Tatsächlich hat der Jahrhundert-Mann sehr früh die soziale Verantwortung für seine Mitarbeiter angenommen. Er hat ihnen Weihnachtsgeld gezahlt, als das noch die Wenigsten taten, er hat die Fünf-Tage-Woche eingeführt und eine eigene Sozialkasse eingerichtet. Heute beschäftigt die Otto-Gruppe weltweit 50 000 Menschen.

Otto selbst hat sich bereits Mitte der Sechzigerjahre aus dem Otto-Versand zurückgezogen. Gleichzeitig hat er Immobiliengesellschaften in Kanada und in den USA sowie ein Unternehmen für Einkaufszentren in Deutschland gegründet. Zwischendurch hat er mal versucht, sich die Zeit mit Golfspielen zu vertreiben, aber das hat er schnell wieder bleiben lassen. "Im Büro", so seine Erkenntnis, "muss ich mich schon genug ärgern!"

Werner Otto, der das Gymnasium als 17-Jähriger verließ, ist heute Ehrendoktor und Ehrensenator der Universität Hamburg. Man hat ihm das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen und den Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung für "Soziale Marktwirtschaft". Otto trägt den Ehrentitel Professor der Freien und Hansestadt Hamburg und ist, wie schon erwähnt, nun auch Ehrenbürger Berlins. Weshalb noch kein Otto Ehrenbürger Hamburgs wurde, ist eine ganz andere Geschichte. Immerhin ist Werner Otto einer der bedeutendsten Mäzene Deutschlands. Während über die Werner-Otto-Stiftung, das Werner-Otto-Institut und das Werner-Otto-Haus kranken Kindern geholfen wird, setzt sich der Jahrhundert-Mann andererseits auch mit Millionenspenden für kulturelle Einrichtungen und den Erhalt historischer Baudenkmäler ein. Vornehmlich in Berlin und im Brandenburgischen. In der alten Heimat. Unter anderem ließ Otto seine im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörte Taufkirche in Seelow wieder errichten, und er finanzierte die Restaurierung der Belvedere-Türme auf dem Potsdamer Pfingstberg.

Das Geschenk, das sich Werner Otto zu seinem 100. Geburtstag selber macht, ist die gerade gegründete Werner-und-Maren-Otto-Stiftung. Ihr Ziel: in Brandenburg eine Wohnanlage zu schaffen, in der alte Menschen am Ende ihres Lebens nicht einsam sein müssen. Sie werden ihre Haustiere mitbringen können und sollen den Kontakt zur Gegenwart behalten. Etwa über einen Kindergarten, der dem Projekt angeschlossen wird.

Der Mann könne einfach nicht still sitzen, hat Helmut Schmidt einst über Werner Otto gesagt. Wie sehr das stimmte, musste er erleben, als der Freund mit jugendlichen Neunzig beschloss, noch einmal umzuziehen: nach Berlin. Dahin, wo er sich in den 30er-Jahren mit einem Zigarrenladen zum ersten Mal selbstständig gemacht hatte. In Berlin müsse man jetzt sein, hat er damals begeistert gesagt. "Man spürt doch, wie sich hier alles bewegt."

In Matthias Schmoocks Buch heißt es, Werner Otto verkörpere Mut, Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit, aber auch Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Otto selbst sagt, ein moderner Unternehmer werde nicht nur an Umsatzzahlen und Produktionsziffern gemessen, "sondern immer mehr auch daran, was er aus sozialer Verantwortung heraus bereit ist, für die Gesellschaft zu tun". Es sei unzweifelhaft, dass im Wirtschaftsleben "eine Menge Ethik" stecken müsse.

Da sollten dem einen oder anderen deutschen Unternehmer die Ohren klingeln.