Sie fordern bis zu sieben Prozent mehr Geld. Wirtschaftswissenschaftler halten Gehaltssteigerungen von mehr als drei Prozent für angemessen.
Hamburg. Bescheidenheit war gestern : Die Gewerkschaft Ver.di fordert für die gut 100 000 Beschäftigten der Telekom 6,5 Prozent mehr Geld, die IG BCE - die bisher nicht durch besondere Aggressivität aufgefallen ist - will für die 550 000 Chemiewerker sechs bis sieben Prozent mehr. Bei Volkswagen und im Versicherungsgewerbe liegen Tarifforderungen von sechs Prozent auf dem Tisch, die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten verlangt fünf bis sechs Prozent.
Die Reallöhne sind in Deutschland jahrelang zurückgegangen
Zwar sind dies zunächst nur die Zielvorstellungen der Arbeitnehmerseite. Aber selbst der sonst wirtschaftsliberal eingestellte Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) bekundete in einem Abendblatt-Gespräch seine Sympathie für solche Forderungen: "Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich." Als Muster dafür nannte er den Tarifabschluss in der Stahlindustrie für Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen, der ein Plus von immerhin 3,6 Prozent vorsieht.
Auf der Seite der Gewerkschaften argumentiert man nicht zuletzt mit dem Argument, nach einer langen Phase der Lohnzurückhaltung bestehe nun Nachholbedarf. Tatsächlich mussten die Beschäftigten in mehreren der zurückliegenden Jahre Einbußen bei den Reallöhnen hinnehmen, weil die Preise schneller stiegen als die Einkommen (siehe Grafik). Das galt entgegen dem Anschein auch 2009: Zwar stiegen die Tariflöhne recht kräftig, aber die Zahl der tatsächlich bezahlten Arbeitsstunden sank krisenbedingt noch stärker.
Auch wenn derzeit die Lohnstückkosten noch unter dem im vorigen Boom erreichten Niveau liegen, zeigt Kai Carstensen, Konjunkturchef des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, angesichts der Erfolgsmeldungen aus den Unternehmen Verständnis für die ambitionierten Forderungen. "Auch ein Arbeitgeber muss ein Interesse daran haben, dass die Arbeitnehmer sich fair behandelt fühlen", findet er. Doch das sehen die Chemiearbeitgeber naturgemäß etwas anders. Die IG BCE müsse darauf achten, "die Bodenhaftung nicht zu verlieren", hieß es dort, der Branche gehe es noch keineswegs besser als vor der Krise.
Für Michael Bräuninger, Konjunkturchef des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), zählt der Chemiesektor hingegen zu den Wirtschaftszweigen, in denen es "offensichtlich sehr gut" läuft. "In bestimmten Branchen kann eine Drei vor dem Komma bei den Tarifabschlüssen durchaus angemessen sein", sagt Bräuninger. Selbst für die Gesamtwirtschaft hat der Sachverständigenrat in seinem kürzlich vorgestellten Gutachten einen sogenannten lohnpolitischen Verteilungsspielraum von gut 2,9 Prozent errechnet - diese Größe ergibt sich aus der Inflationsrate und der Zunahme der Arbeitsproduktivität.
Deutlich steigende Reallöhne durch Abschlüsse in der Nähe von 3,5 Prozent seien aber auch volkswirtschaftlich gesehen sinnvoll, um die Binnenkonjunktur anzuschieben und damit die Abhängigkeit Deutschlands von den Exporten abzumildern, sagt Reinhard Bispinck, Tarifexperte beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Und noch ein anderes Ungleichgewicht gelte es abzubauen: "Wir sehen eine kräftige Umverteilung zulasten der Arbeitnehmereinkommen." Bräuninger bestätigt dies: "Im Zuge der Globalisierung haben Unternehmer- und Kapitaleinkünfte überdurchschnittlich stark zugenommen." Während im dritten Quartal 2010 nach Angaben des Statistischen Bundesamts die Arbeitnehmerentgelte um 3,1 Prozent wuchsen, legten die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 8,7 Prozent zu.
Einmalzahlungen lohnen sich für Arbeitnehmer auf längere Sicht nicht
Auch nach Auffassung von Hans-Theodor Kutsch, Vorsitzender des Industrieverbands Hamburg und Chef der zur Chemiebranche zählenden Firma Albis Plastic, sollten die Beschäftigten "angemessen am Aufschwung beteiligt werden". Weil aber die Gewinne der Firmen im internationalen Wettbewerb stark schwankten, könnten regelmäßige Steigerungen der fixen Arbeitskosten ihren Bestand gefährden, sagt Kutsch dem Abendblatt: "Die Erfolgsbeteiligung der Beschäftigten muss in Zukunft durch Bonifizierung statt durch lineare Lohnerhöhungen erfolgen."
Doch Bispinck rät den Gewerkschaften davon ab, sich darauf einzulassen: Ein Beschäftigter mit 2000 Euro Monatsbrutto, der in einem Jahr statt einer Tariferhöhung um zwei Prozent eine Einmalzahlung von 480 Euro erhalte und erst danach in jedem Jahr zwei Prozent mehr, habe wegen des Zinseszinseffekts nach fünf Jahren 2500 Euro weniger in der Tasche als ein Kollege, dessen Gehalt schon im ersten Jahr um zwei Prozent stieg.