Gewerkschaft IG Metall fordert deutlich mehr Lohn. Experten streiten über die Konsequenzen für die Wirtschaft nach dem Aufwärtstrend.

Hamburg. Mit der deutschen Wirtschaft geht es wieder kräftig aufwärts : Auftragseingänge und Exporte legen mit zweistelligen Wachstumsraten zu, zahlreiche Firmen melden Gewinnsprünge. Das macht die Jobs sicherer - doch darüber hinaus haben die Beschäftigten wenig davon, abgesehen von vereinzelten Erfolgsbeteiligungen.

Denn es gelten weiter die Tarifverträge, die unter dem Eindruck der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten abgeschlossen wurden. In dieser Phase ging es nicht um mehr Geld, sondern vorrangig um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Hinzu kommt: Schon vor der Krise, seit dem Jahr 2003, sind die Reallöhne, also die Einkommen abzüglich der Inflation, nicht zuletzt wegen der zumeist moderaten Tarifabschlüsse gesunken.

Zwar verschaffte dies den exportorientierten Unternehmen die gute internationale Wettbewerbsposition, die sie jetzt nutzen können. Doch wenn es nach den Gewerkschaften geht, soll mit der Bescheidenheit nun Schluss sein: In den im September beginnenden Verhandlungen über die Gehälter für 85 000 Beschäftigte der Stahlindustrie in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen will die IG Metall zwischen 4,5 und acht Prozent mehr Geld fordern. "Wir halten das für die erste Tarifrunde in der Nachkrisenzeit", sagte der nordrhein-westfälische Bezirksvorsitzende Oliver Burkhard. "Die Krise war gestern." Schließlich wiesen die Zahlen bei Anbietern wie ThyssenKrupp oder Salzgitter deutlich nach oben. "Jetzt erwarten wir, dass die Beschäftigten auch wieder ihren Anteil bekommen", so Burkhard. Er geht davon aus, dass der Stahlabschluss als Vorbild für andere Branchen dient.

"Ich glaube, dass tatsächlich Nachholbedarf besteht", sagte Rudolf Hickel, Direktor des Instituts für Arbeit und Wirtschaft (IAW) in Bremen, dem Abendblatt. Nach seiner Auffassung sind steigende Gehälter jedoch auch volkswirtschaftlich geboten.

"Wir befinden uns in der klassischen Situation des Aufschwungs - die Unternehmensgewinne laufen den Löhnen davon", so Hickel. Doch eine unzureichende Beteiligung der Beschäftigten an der ökonomischen Wertschöpfung bremse die Erholung. Denn die massiven Gewinnzuwächse würden von den Unternehmen nur in geringem Maß zur Finanzierung von beschäftigungsfördernden Investitionen verwendet, sie flössen stattdessen zum großen Teil auf die Finanzmärkte, um dort schnell hohe Renditen zu erzielen.

Außerdem sei eine Stärkung der Binnenkonjunktur mittels steigender Löhne dringend nötig, um nicht allein von Exporterfolgen abhängig zu sein - "zumal es Hinweise darauf gibt, dass schon im Herbst die Weltwirtschaft wieder lahmen könnte", sagte Hickel.

Zwar stünden derzeit nur wenige Tarifverhandlungen an. Es gebe aber eine Reihe von Instrumenten, mit denen die Lohnsumme dennoch erhöht werden könnte: "Man sollte Sonderzahlungen wie etwa das Weihnachtsgeld, die in der Krise gekürzt oder abgeschafft wurden, wieder aufstocken, darüber hinaus müsste die Leiharbeit besser entlohnt werden", fordert der Experte. Aus Hickels Sicht wäre eine Einkommenssteigerung von drei Prozent angemessen: "Sie wäre verteilungsneutral, denn damit würde nur der Anstieg der Arbeitsproduktivität von rund zwei Prozent und die Inflationsrate von etwa einem Prozent ausgeglichen."

Auf der Arbeitgeberseite hingegen hält man von Gedankenspielen über kräftigere Gehaltssteigerungen nicht viel. "Ich sehe derzeit wahrlich keinen Spielraum für größere Lohnzuwächse", sagte Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), dem Abendblatt. "Selbst wenn die Wirtschaft jetzt wieder gut anläuft, liegen wir derzeit noch deutlich unter Vorkrisenniveau."

Auch Michael Hüther, Direktor des als arbeitgebernah geltenden Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), hält großzügigere Tarifabschlüsse für eher schädlich. Er verweist darauf, dass die Unternehmen den zurückliegenden drastischen Abschwung mit weitgehend stabiler Beschäftigung durchgestanden haben. "Die Krise wurde mit einem starken Rückgang der Produktivität aufgefangen, sodass die Lohnstückkosten im Jahre 2009 in der Industrie um 15,6 Prozent anstiegen", sagte Hüther dem Abendblatt. "2010 ist das Jahr der Normalisierung, der jetzige Produktivitätsanstieg korrigiert den Effekt der Krise und ist keine Grundlage für Lohnzuschlagsforderungen."

Ohnehin würden die Tariflöhne in der Metall- und Elektrobranche - wie bereits vereinbart - im kommenden Jahr um 2,7 Prozent ansteigen: "Das muss erst einmal verkraftet werden." Unbenommen davon könnten die Unternehmen prüfen, ob Einmalzahlungen oder Gewinnbeteilungslösungen möglich sind. "Zusätzliche tarifliche Lasten wären aber das falsche Signal", sagte Hüther.

Grundsätzlich hält er ebenso wie Hickel eine Stärkung der Binnennachfrage für richtig, aber: "Der Weg ist streitig." Hüther argumentiert, der private Konsum lasse sich am wirksamsten durch den Aufbau neuer Arbeitsplätze beflügeln: "Hier ist der Hebel viel kräftiger als bei Lohnerhöhungen."

Doch ganz abgesehen von diesem Zwist ergebe sich in diesem Jahr schon ganz automatisch ein Nachfrageimpuls, meint DIHK-Präsident Driftmann: "Ein großer Erfolg ist, dass die Kurzarbeit inzwischen bei den meisten Betrieben wieder in Normalbeschäftigung umgewandelt werden konnte. Damit haben im Vergleich zum Vorjahr rund eine Million Arbeitnehmer und ihre Familien wieder deutlich mehr Geld im Portemonnaie."