Obwohl er höhere Löhne fordert, haben die Gewerkschaften Rainer Brüderle (FDP) aufgefordert, sich aus der Diskussion rauszuhalten.

Hamburg. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hat im Abendblatt-Interview deutlich höhere Löhne in Deutschland angeregt - und wird dafür ausgerechnet von den Gewerkschaften kritisiert.

„Die Lohnerhöhungen machen die Gewerkschaften immer noch selber“, sagte der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer, dem rbb. Die Politik sei immer gut beraten gewesen, dass sie sich da raus halte. Es sei jedoch in Ordnung, „wenn selbst die Liberalen mittlerweile erkennen, dass man auch eine Steigerung der Massenkaufkraft braucht, um die Wirtschaft anzukurbeln“.

„Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich“, hatte der FDP-Politiker dem Hamburger Abendblatt gesagt. Brüderle machte zwar deutlich, dass allein die Tarifpartner über die Höhe der Löhne entschieden und die Politik sich nicht einmischen solle, nannte aber die Stahlindustrie als Vorbild. Dort mündeten die Tarifverhandlungen in der vergangenen Woche in einen vergleichsweise hohen Abschluss. Die 85.000 Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen bekommen von Oktober an 3,6 Prozent mehr Gehalt. Brüderle sagte: „Der Abschluss in der Stahlbranche hat gezeigt, dass ein fairer Ausgleich möglich ist, an dem sich vielleicht andere Branchen orientieren könnten.“

Lesen Sie das komplette Abendblatt-Interview mit Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle :

Abendblatt.de: Die Regierung verharrt im Umfragetief. Was muss Schwarz-Gelb jetzt gelingen, damit Union und FDP bei den wichtigen Landtagswahlen im Frühjahr eine Chance haben?

Rainer Brüderle: Wir müssen Kurs halten und unsere Reformagenda abarbeiten. Wir haben schon viel erreicht, wie jüngst das Energiekonzept. Wir müssen entschlossen weiter arbeiten und unseren Wählern deutlich machen, dass wir umsetzen, was wir angekündigt haben. Dann werden wir auch wieder mehr Vertrauen gewinnen. Die heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit über Projekte der Regierung zeigen ja, dass wir damit begonnen haben, unsere Versprechen umzusetzen.

Abendblatt.de: Sie haben vor allem Steuersenkungen versprochen. Ist eine weitere Entlastung der Bürger in dieser Wahlperiode möglich?

Brüderle: Die Steuersenkungen haben wir auf der Zeitachse verschoben, weil wir zuerst unsere Schulden in den Griff bekommen müssen. Die Schuldenbremse im Grundgesetz zwingt uns zum Sparen. Die Haushaltskonsolidierung hat jetzt Priorität. Aber unser Ziel bleibt unverändert, gerade die Leistungsträger in der Mitte zu entlasten und das Steuersystem zu vereinfachen.

Abendblatt.de: Wann?

Brüderle: Ich gehe davon aus, dass die Koalition noch in dieser Legislaturperiode weitere Steuersenkungen beschließen wird. So steht es im Koalitionsvertrag. Zeitpunkt und Umfang für eine Reform hängen von der wirtschaftlichen Entwicklung und den Fortschritten bei der Haushaltskonsolidierung ab. Steuererleichterungen für unsere hervorragenden Fachleute sind aber wichtig, denn wir wollen abgewanderte Fachkräfte und Wissenschaftler nach Deutschland zurückholen. Wenn man sie fragt, warum sie das Land verlassen haben, sagen sie: Es gibt zu viel Bürokratie, und es bleibt zu wenig Netto vom Brutto.

Abendblatt.de: Welches Wirtschaftswachstum erwarten Sie?

Brüderle: Die Bundesregierung wird in diesem Monat ihre Prognose vorlegen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist erfreulicherweise viel kräftiger und viel nachhaltiger, als es im Frühjahr den Anschein hatte. Damals haben wir 1,4 Prozent Wachstum vorhergesagt. Eines kann ich bereits mit Sicherheit sagen: Es wird mindestens eine Zwei mit einer hohen Zahl nach dem Komma sein. Einen genauen Wert kann ich aber noch nicht nennen. Nur so viel: Deutschland hat beste Chancen, wirtschaftlich auch längerfristig einen guten Weg zu gehen. Wir sind die Konjunkturlokomotive für ganz Europa.

Abendblatt.de: Was bedeutet das für die Arbeitslosigkeit?

Brüderle: Die Chancen stehen sehr gut, dass wir noch in diesem Jahr die Drei-Millionen-Grenze klar unterschreiten werden. Das zeigt: Der Aufschwung ist ein Beschäftigungsaufschwung. Im Süden der Republik steht bei der Arbeitslosenquote schon eine Vier vor dem Komma. Ökonomen sprechen bei solchen Werten von Vollbeschäftigung. In Bayern und Baden-Württemberg gibt es nun vor allem ein Thema: Wo bekommen wir die Fachkräfte her, die jetzt benötigt werden?

Abendblatt.de: Ist Vollbeschäftigung in der gesamten Bundesrepublik erreichbar?

Brüderle: Vollbeschäftigung in Deutschland ist unser Ziel. Wir können es mit seriöser Politik in einigen Jahren erreichen. Um den Fachkräftemangel zu beheben, brauchen wir gesteuerte Zuwanderung nach unseren Interessen – etwa mit einem Punktesystem wie in Kanada. Wir müssen auch Ältere dafür gewinnen, länger auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben, und Jugendliche besser qualifizieren.

Abendblatt.de: Ist auch die Zeit für Lohnerhöhungen gekommen?

Brüderle: Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich; über die Höhe entscheiden aber allein die Tarifpartner. Die Politik sollte sich nicht einmischen. Der Abschluss in der Stahlbranche hat gezeigt, dass ein fairer Ausgleich möglich ist, an dem sich vielleicht andere Branchen orientieren könnten. Die Krise ist vorbei. Jetzt ist es an der Zeit, neue Prioritäten zu setzen. Wir müssen die Arbeitsplätze in Deutschland attraktiv halten, um unsere Wachstumschancen zu ergreifen.