Lohnzurückhaltung und Sozialreformen nutzen Deutschland als Erfolgsrezept. Doch am Arbeitsmarkt liegt noch viel im Argen.

Hamburg. Zu den Angewohnheiten, die man Angela Merkel (CDU) eigentlich nicht nachsagen kann, gehört lautes Trommeln in eigener Sache. Die Rhetorik der Bundeskanzlerin ist - anders als die des großen Selbstdarstellers, ihres Vorgängers Gerhard Schröder (SPD) - eher dezent. Doch in der vergangenen Woche gab die Kanzlerin ihre Zurückhaltung auf, teilte den Deutschen in Zeitungsanzeigen mit, dass sie Weltspitze seien. "Sie haben Deutschland zu dem Land gemacht, das die weltweite Wirtschaftskrise am besten gemeistert hat", stellte die Kanzlerin fest, nicht ohne auf die segensreichen Hilfestellungen der Bundesregierung während der Krise zu verweisen. "Die Welt", sagte Merkel, "schaut auf unser Land und spricht von einem Wunder."

Gar wunderbare Zahlen bestätigen Monat für Monat, dass Bürger, Unternehmen und Politik in Deutschland während der vergangenen Jahre ziemlich viel richtig gemacht haben müssen. Der Geschäftsklimaindex für November, den das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung gestern vorlegte, erreichte mit 109,3 Punkten den höchsten Stand seit Beginn der gesamtdeutschen Berechnungen im Jahr 1991. Der Index gilt als wichtigster Frühindikator der deutschen Wirtschaft. "Die deutsche Wirtschaft schraubt sich immer höher", sagte Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Und Ifo-Ökonom Klaus Abberger sekundierte: "Der Aufschwung ist intakt und breit angelegt."

Keine Spur mehr von Schwarzmalerei

Die Depression, die das Land zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts beherrschte, scheint geheilt. Die Weltwirtschaftskrise von 2008 und 2009 war die schlimmste seit Dekaden - doch keine Spur ist mehr zu sehen von jener Schwarzmalerei aus der Zeit nach der geplatzten New-Economy-Blase und der Hartz-Reformen von 2003 bis 2005. Das Wirtschaftsmagazin "Capital" ruft stattdessen "Das deutsche Jahrzehnt" aus, das geprägt sein werde von "mehr Jobs, mehr Geld, mehr Konsum".

Noch hat die deutsche Wirtschaft nicht das Niveau aus der Zeit vor der Weltwirtschaftskrise erreicht. Aber die Tatsache, dass der Aufschwung so unerwartet deutlich und stabil ist, wirkt nach dem ökonomischen Großbeben geradezu befreiend. Mit erstaunlichen Folgen: Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt etwa, der Lohnerhöhungen in den vergangenen Jahren betonhart abgelehnt hatte, zeigte sich am Dienstag beim Arbeitgebertag in Berlin fast schon spendabel: "Natürlich wird es auch Lohnerhöhungen geben." Natürlich nicht sofort, denn große Tarifverhandlungen stehen derzeit nicht an.

Immerhin aber weisen solche Äußerungen auf eine Trendwende in Deutschland hin. Der Binnenmarkt rückt wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Mehr als ein Jahrzehnt lang mussten die meisten deutschen Arbeitnehmer auf reale Steigerungen bei den Einkommen verzichten. Die zurückliegenden Wirtschaftskrisen überstanden die deutschen Unternehmen auch deshalb so gut, weil Arbeitgeber mit Betriebsräten und Gewerkschaften klug und flexibel kooperierten. Hinzu kamen staatliche Hilfen wie vor allem die Zuschüsse zum Kurzarbeitergeld während der letzten Rezession. Die Sicherung von Arbeitsplätzen, die Modernisierung der Unternehmen und die Steigerung der Produktivität erhielten absoluten Vorrang vor der Erhöhung der Einkommen. Das deutsche "Wunder" wurde hart erarbeitet.

Unbefangener als in den vergangenen Jahren geben die Deutschen nun wieder Geld aus, im Vertrauen darauf, dass sich die Gehälter wie auch die Lage am Arbeitsmarkt weiter verbessern werden. Der Konsumklimaindex, den die Gesellschaft für Konsumforschung am Dienstag vorgelegt hat, zeigt wachsende Zuversicht, der Einzelhandel erwartet ein starkes Weihnachtsfest. "Deutschland sieht einem goldenen Jahrzehnt entgegen, mit mehr Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit, gesünderen Staatsfinanzen und mehr Freude für die Konsumenten", heißt es geradezu euphorisch in einer Analyse der sonst so distinguierten Hamburger Berenberg Bank zu den jüngsten Stimmungsmeldungen aus der Wirtschaft. "Deutschland erntet die Früchte des Sparkurses und des Reformprogramms aus den Jahren 2003 bis 2007. Schwächere Euro-Staaten und Großbritannien tun jetzt unter Zeitdruck genau das, was Deutschland früher und mit langsamerer Gangart getan hat."

Eben dafür wurde das Land in jüngerer Zeit immer wieder angefeindet. Wiederholt kam aus Partnerländern in der Europäischen Union, vor allem aus Frankreich, Kritik, dass sich Deutschland mit einer restriktiven Lohnpolitik und wachsender Exportstärke auf Kosten anderer EU-Volkswirtschaften saniere. US-Präsident Barack Obama, der wegen der schlechten Wirtschaftslage in den Vereinigten Staaten zu Hause politisch stark unter Druck steht, verstieg sich beim jüngsten G20-Gipfel gar zu dem Vorschlag, die Exporte bestimmter Staaten müssten reglementiert werden. Ein bemerkenswertes Signal aus dem Kernland der freien Marktwirtschaft, dessen veraltete Industrie immer weiter zurückfällt - und ein Ansinnen, das Kanzlerin Merkel strikt ablehnte.

Deutschland zahlt und bürgt mehr als andere für Versäumnisse der Partner

Auch die Kritiker in Europa stehen argumentativ auf wackligem Grund: Deutschland als Hauptfinanzier der Euro-Zone zahlt und bürgt derzeit im Zuge europäischer Hilfsprogramme mehr als jedes andere EU-Mitgliedsland für die wirtschafts- und strukturpolitischen Fehler und Versäumnisse der Partner. Deutschland ist die ökonomische Zugmaschine Europas: "Die starke deutsche Wirtschaft nützt Europa insgesamt", befinden die Analysten der Berenberg Bank. "Deutschland ist der Haupthandelspartner für die meisten europäischen Länder. Viele Euro-Staaten haben nun die Chance, mehr hierher zu exportieren - und umgekehrt mehr Touristen aus Deutschland zu empfangen."

Die psychologisch wohl wichtigste Wirtschaftszahl, die der registrierten Arbeitslosen, ist in Deutschland mittlerweile auf unter drei Millionen gefallen, wenn auch mit allerlei statistischen Tricks. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) geriert sich angesichts dessen immer mehr wie der Chef des Gutelauneressorts. Der gesellige Politiker musste, anders als seine Vorgänger in Berlin, keine harten Reformen mittragen. Er sieht Deutschland bereits "auf dem Weg zur Vollbeschäftigung" - das klingt fast so schön wie beim deutschen Wirtschaftswunderminister Ludwig Erhard (CDU), der nach dem Zweiten Weltkrieg "Wohlstand für alle" postuliert und auf dem Weg dahin viel erreicht hatte.

An ein Wunder am deutschen Arbeitsmarkt allerdings will der Bremer Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel noch nicht so recht glauben. Gerade dort sieht der Ökonom vom Institut für Arbeit und Wirtschaft (IAW) entscheidende Schwächen: "Die Zahl der registrierten Arbeitslosen bleibt niedrig. Aber diese Zahl verdeckt die Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse", sagt er. "Weniger registrierten Arbeitslosen stehen mehr Niedriglöhner gegenüber." Auch die Zahl der Leiharbeiter und befristet Beschäftigten steige.

Eine langfristig stabile Entwicklung der deutschen Wirtschaft, meint Hickel, sei nur zu erreichen, wenn auch der Arbeitsmarkt umfassend modernisiert werde - vor allem angesichts eines jetzt einsetzenden Mangels an Facharbeitern. Hickel fordert die Einführung von Mindestlöhnen und die gezielte Förderung jüngerer Arbeitnehmer. Gerade die Jüngeren hätten derzeit kaum Chancen, gut bezahlte und unbefristete Arbeitsplätze und damit Perspektiven zu finden. "Wir können uns über die Lage der deutschen Wirtschaft wirklich freuen", sagt Hickel, "aber wir dürfen nicht der Brüderle-Illusion erliegen, dies sei ein Selbstläufer."