13 Stunden Arbeit am Tag, 1000 Liter Milch pro Melkgang. Ein Knochenjob. Und ohne Direktverkauf der Milch drohen den Bauern Verluste.

Hamburg. Pünktlich um sechs Uhr morgens steht Emma zum Melken bereit. Ihr Atem dampft in der eisigen Luft, das Thermometer draußen steht auf minus zwei Grad. Im Stall ist es kaum wärmer. Emma hat ihr ganzes Leben auf dem Milchhof Reitbrook im Hamburger Süden verbracht, die tägliche Routine kennt sie in- und auswendig. Und so ist sie auch jetzt die Erste, die in den Melkstand trottet, als Bäuerin Ingrid Langeloh ruft: "So, meine Damen, auf geht's!"

Die schwarz-weiß gefleckten Kühe drängeln und schieben, bis alle 18 Plätze an der Melkmaschine besetzt sind. Ingrid Langeloh reinigt jede einzelne Zitze, stülpt den Pumpaufsatz darüber. Die Maschine dröhnt, gelblich weiß fließt es durch die Rohre in die Tanks im Nebenraum. 1000 Liter pro Melkgang, zweimal am Tag. Mit schnellen Handgriffen fertigt die Bäuerin jede Kuh ab, gibt einer einen Klaps auf den Hintern ("Komm Mädchen, dreh dich um!"), krault Emma den schwarzen Kopf. Bis sie alle 100 Kühe gemolken hat, vergehen zwei Stunden und Ingrid Langeloh schwitzt unter ihrem geblümten Kopftuch.

Ihr Mann Gerd ist der Frühaufsteher in der Familie. Um kurz vor vier Uhr hat er seine weiße Latzhose angezogen und ist in seine Gummistiefel geschlüpft. Neben dem Stallgebäude liegt sein Reich: die Milchtanks, die Pasteurisierungsanlage, die Abfülleinrichtung, der Waschraum für die Mehrwegflaschen. 80 000 Mark hat das alles vor zehn Jahren gekostet, als Gerd Langeloh angesichts ständig schwankender Milchpreise beschloss, für sich und seine Familie ein zweites Standbein mit der Direktvermarktung aufzubauen. "Wir haben den Verbraucher schließlich direkt vor der Haustür", sagt er. "Da bekommen wir einen ganz anderen, vor allem stabileren Preis." Nämlich einen Euro pro Liter Milch, 1,75 Euro pro 500-Gramm-Glas Joghurt. Inklusive Lieferung bis nach Hause.

Zwar geht nur ein gutes Drittel der Langelohschen Milch an Hamburger Firmen und private Haushalte im Bezirk Bergedorf. Die Direktvermarktung bringt aber zwei Drittel des Umsatzes auf dem Hof. Das Wachstum in diesem Bereich ist zweistellig, der herkömmliche Vertrieb über die Molkerei Nordmilch tritt immer mehr in den Hintergrund. "Wir sind der einzige Betrieb in Hamburg und Schleswig-Holstein, der Vorzugsmilch machen darf", erzählt Langeloh. Der Stolz in seinen blauen Augen ist nicht zu übersehen. Vorzugsmilch gilt als höchste Qualitätsstufe, sie wird weder pasteurisiert noch homogenisiert, muss deshalb ganz frisch sein und von gesunden Kühen kommen.

Gerd Langeloh muss sich beeilen. Um 6.30 Uhr soll die erste Lieferung in die Innenstadt gehen, 97 Flaschen für Kantinen, Cafés und Schulen. Er bläst zwei blaue Gummihandschuhe auf, streift sie über seine Hände. Hygiene ist für einen Direktvermarkter wie Langeloh das oberste Gebot, wenn er seine Zulassung behalten will. Und das will er unbedingt, trotz der vielen Mehrarbeit - nur diesem Zusatzverdienst ist zu verdanken, dass der Milchhof Reitbrook, anders als viele Konkurrenzbetriebe, im Krisenjahr 2009 keine Verluste machte. Die ersten Liter der pasteurisierten Milch schießen in den Tank im Abfüllraum. Gerd Langeloh setzt zwei Spritzpumpen an, füllt die Milch in Flaschen, schraubt Deckel darauf. Jetzt ein Aufkleber mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum - fertig. Sechs Flaschen, zwölf, nach einer halben Stunde muss er die Kästen in dem kleinen Raum stapeln. Kälte und Müdigkeit haben seine Wangen rosa gefärbt.

Acht Uhr morgens, null Grad. Ingrid Langeloh spritzt den Melkstand mit Wasser ab, ihre Kühe haben reichlich Dreck hinterlassen. Das vereinzelte Muhen im Freilaufstall wird zu einer stetigen Geräuschkulisse, die Tiere haben Hunger. Ingrid Langeloh ist zierlich gebaut, sie wird dieses Jahr 60 Jahre alt. Trotzdem schwingt sie die Mistgabel ebenso energisch wie ihre männlichen Helfer. Die Kühe kauen ihren Silage-Getreide-Mix. Der hektische Betrieb in der Hofeinfahrt, wo die Lieferwagen mit dem Milchhof-Reitbrook-Logo ein- und ausfahren, stört sie nicht. Dort schleppt Gerd Langeloh Kisten mit Milch, Joghurt und Eiern aus dem Kühlraum zu den Fahrzeugen. Zwei Angestellte haben die Arbeit im Abfüllraum übernommen, die frisch gemolkene Vorzugsmilch läuft jetzt in die Tanks.

Zehn Uhr. In der überheizten Küche läuft der Kaffee durch, den Ingrid Langeloh aufgesetzt hat. Die Kühe, Hühner, Hasen und Katzen sind versorgt, jetzt ist die Familie dran. Die Prioritäten sind klar gesetzt. 2009 waren Gerd und Ingrid Langeloh eine Woche zusammen im Urlaub - "mehr ist nicht drin", sagt sie. Einen zweiwöchigen Urlaub hat das Paar zuletzt vor 35 Jahren zur Verlobung gemacht. Dabei ist ihr Betrieb im Vergleich mit anderen Bauernfamilien gut aufgestellt: Vor zehn Jahren schlossen sie sich mit dem Nachbarhof zusammen und bewirtschaften den Stall, die Abfüllanlagen und 200 Hektar Land seitdem gemeinsam. Mit klar verteilten Aufgaben: Sie, die auf dem Hof bereits aufgewachsen ist, versorgt die Tiere. Er kümmert sich als diplomierter Betriebswirt um die Direktvermarktung. Mithofbesitzer und Nachbar Rainer Kohrs baut das Futter für die Kühe an. Die Fusion rentiert sich: "Wachsen oder weichen - das ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft", sagt Gerd Langeloh. "Wir können den Preisverfall nur auffangen, indem wir mehr produzieren." Viele seiner Branchenkollegen haben das nicht geschafft. Heute gibt es nur noch 20 Milchviehbetriebe in Hamburg. Bei den Langelohs, die beide dieses Jahr ihren 60. Geburtstag feiern werden, geht es eher darum, welches der drei Kinder den Hof einmal übernehmen darf.

Der Wind bläst eisig in den Stall, vom Dach hängen Eiszapfen. Die Kühe kauen, die knochigen Körper auf Liegeplätzen ausgestreckt. Mit Mütze und Fäustlingen ausgestattet, macht Ingrid Langeloh ihr "Herden-Management", wie sie es scherzhaft nennt. Einige Kühe bekommen spezielles Futter, andere müssen medizinisch behandelt oder für die Besamung vorbereitet werden. Über das Thema Nachwuchs diskutiert die Bäuerin noch um 13 Uhr beim Mittagessen mit ihrem Mann, Tochter Anne (19), Sohn Sönke (29) und dem Angestellten Sören Jensen (31) in der orange gekachelten Einbauküche. Der Zuchtkatalog "Bullen 2010" gehört zur Standardlektüre. Soll es für Kuh Jutta lieber Bulle Jetlag oder Elvis sein?

14 Uhr. Tigerkatze Kimmi hat sich wohlig auf einem Küchenstuhl zusammengerollt, auch Ingrid und Gerd Langeloh haben sich nach dem Mittagessen hingelegt. Am Nachmittag wartet genug Arbeit für alle auf dem Hof: Schnee schippen, Futter anmischen, die Produktionsanlagen säubern, Lieferungen für den nächsten Tag vorbereiten, Büroarbeit. Und das jeden Tag. Hornhaut, Rückenschmerzen und kalte Füße inklusive. Trotzdem haben die Langelohs nie ernsthaft überlegt, den Hof aufzugeben. "Andere bezahlen für ihre Ferien auf dem Bauernhof - wir dürfen immer hier leben", ist Langelohs Leitspruch. Das Anwesen ist seit 400 Jahren in Familienbesitz.

Um 16.30 Uhr steht Kuh Emma wieder ganz vorn im Stall. Zeit zum Melken. Und wenn gegen 19 Uhr weitere 1000 Liter Milch abgepumpt, Anlage und Stall gesäubert sind, ist Feierabend auf dem Milchhof Reitbrook.