Hoch riskante Geschäfte sollen geregelt ablaufen - und im Einzelfall verboten werden. Beschlüsse der Bundesregierung gehen bereits weiter

Hamburg. Es ist ein für Laien unvorstellbar großer Betrag: Auf 615 Billionen Dollar (478 Billionen Euro) schätzt die EU-Kommission das Volumen des globalen Handels mit sogenannten Derivaten. Diese Form der Wertpapiere wird für einen Großteil der Turbulenzen während der Finanzmarktkrise verantwortlich gemacht.

Nun will die EU den Handel mit solchen Derivaten und anderen potenziell spekulativen Finanzinstrumenten wirksam kontrollieren. Die Brüsseler wollen außerdem Leerverkäufe - mit denen Hedgefonds auf den Verfall einer Währung oder Aktie wetten - im Krisenfall für drei Monate verbieten.

"Kein Finanzmarkt darf Wild-West-Gebiet bleiben", sagte gestern der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier. Er legte seine Regulierungsvorschläge am zweiten Jahrestag des Zusammenbruchs der US-Investmentbank Lehman Brothers vor. Stimmen die 27 EU-Staaten und das Europaparlament den Plänen zu, könnten die neuen Gesetze gegen Ende des Jahres 2012 in Kraft treten.

Barnier geht es vor allem darum, Transparenz in den bislang unbeaufsichtigt zwischen den Investoren und Banken ablaufenden Handel mit Derivaten und sogenannten Kreditausfallversicherungen (siehe Kasten) zu bringen. Die Geschäfte sollen daher künftig über eine zentrale Abwicklungsstelle, die die Funktion einer Börse übernimmt, getätigt und dort schließlich auch registriert werden.

"Wir wollen Licht auf Leute scheinen lassen, die das nicht gewohnt sind", erklärte der EU-Kommissar. "So werden wir wissen, wer was macht und wer wem wie viel schuldet." Werden Transaktionen nicht gemeldet, kann dies Strafen nach sich ziehen.

Zudem werde die neu einzurichtende Clearingstelle berechtigt sein, allzu riskant scheinende Geschäfte zu unterbinden und Ausfälle von Marktteilnehmern aufzufangen, indem Sicherheiten verlangt werden. "Einzelne Pleiten sollen nie mehr das gesamte Finanzsystem destabilisieren wie im Fall der Lehman-Pleite", sagte Barnier. Auch Leerverkäufe sollen künftig gemeldet werden. Soweit es um die besonders spekulativen ungedeckten Leerverkäufe geht, soll der Verkäufer nach den Vorstellungen der EU-Kommission nachweisen können, dass er für die Eindeckung mit dem Wertpapier gesorgt hat.

Mit seinen Plänen stellte sich der EU-Kommissar gegen die Position der Bundesregierung, die im Mai ungedeckte Leerverkäufe von Finanzaktien, Schuldtiteln der Euro-Zone und Kreditausfallversicherungen für Euro-Staaten befristet verboten hatte. "Wir können nicht all diese Produkte einfach aus dem Fenster werfen", sagte Barnier, denn sie versorgten die Märkte mit Geld und sicherten Arbeitsplätze. Nationale Alleingänge dürften nur im "Ausnahmefall" und zunächst auf drei Monate befristet erfolgen.

"Ich finde den Ansatz der EU vernünftiger als den der Bundesregierung", sagte der Finanzexperte Wolfgang Gerke dem Abendblatt. Zwar könnten Investoren zum Beispiel mit Leerverkäufen Spekulationswellen auslösen. "Man muss solche Instrumente aber im Hinblick auf Schaden und Nutzen differenziert betrachten", so Gerke. So könnten Großanleger zum Beispiel ungedeckte Leerverkäufe auch einsetzen, um bei starken Kursschwankungen Risiken in ihren Aktienbeständen zu verringern. Besonders wichtig sei es nun aber, auch die USA "mit ins Boot zu holen", um eine möglichst breite Anwendung der Normen zu gewährleisten.

"Zumindest bei den Leerverkäufen wäre ein Verbot sinnvoll gewesen", sagte der Hamburger Wirtschaftsprofessor Karl-Werner Hansmann dem Abendblatt. Er sei sich aber bewusst, dass eine solche Maßnahme - schon wegen des Widerstands aus London - wohl nicht EU-weit durchsetzbar wäre. "Darum sind die Vorschläge aus Brüssel besser als nichts." Ohnehin agiere man am Finanzmarkt aber weltweit: "Gegen den Euro spekulieren kann man auch in Singapur", sagte Hansmann.

Dass allerdings die missbräuchliche Verwendung von Finanzprodukten mit den gestern präsentierten Gesetzentwürfen nicht ausgeschlossen werden kann, ist auch den EU-Kommissaren durchaus bewusst. "Wenn ich sagen würde, wir verbieten Spekulationen, dann wäre das so, als würde ich sagen, wir verbieten den Regen", räumte Barnier ein.