Eine Vollversorgung in Deutschland mit Wind- und Sonnenenergie, Biomasse und Erdwärme rückt näher - in Studien, aber auch in der Praxis.

Hamburg. Auf unangenehme Weise erinnert dieser Sommer daran, dass Benzin nicht von der Tankstelle kommt und Strom nicht aus der Steckdose. Im Golf von Mexiko verursachte der Energiekonzern BP die bislang größte Ölpest . In Russland drohen gigantische Waldbrände auch Gebiete zu erreichen, die 1986 durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verseucht worden waren. Flammen und Asche könnten den verseuchten Boden in die Luft tragen und eine neue radioaktive Wolke verursachen, fürchten Experten.

Großkatastrophen, aber auch der fortschreitende Klimawandel gemahnen daran, dass eine wachsende Weltbevölkerung eine andere Art der Energieversorgung braucht - weniger klimarelevant und weniger umweltschädlich.

Die Politik streitet um den Energiemix der kommenden Jahrzehnte

Manche Wissenschaftler blicken weit in die Zukunft, um ein Bild davon zu bekommen, wie eine solche Energiewirtschaft aussehen könnte. "Wir legen die heutigen Wind- und Sonnenverhältnisse zugrunde und projizieren sie in die Szenarien zum Ausbau der erneuerbaren Energien", sagt Kurt Rohrig, der stellvertretende Leiter des Fraunhofer Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) in Kassel. "Als Basis nutzen wir die Durchschnittswerte aus zehn meteorologischen Jahren." Das wichtigste Fazit, das der promovierte Physiker und Meteorologe aus diesen Datenreihen zieht, ist: "Zur Mitte des Jahrhunderts können wir den Strombedarf in Deutschland komplett aus erneuerbaren Energien decken."

Nach der Sommerpause will die Bundesregierung ein neues nationales Energiekonzept vorlegen, einen politischen Rahmen dafür, mit welchem Energiemix Deutschland in den kommenden Jahrzehnten versorgt werden kann. Umstritten ist dabei hauptsächlich, welche Rolle Atomreaktoren und Kohlekraftwerke in der vorhersehbaren Zukunft spielen sollen. Politiker vor allem in Union und FDP sowie Vertreter der Energiekonzerne meinen, dass es ohne Atomkraft und neue Kohlekraftwerke am Strommarkt in absehbarer Zeit nicht gehen wird. Dagegen steht eine wachsende Zahl von politischen Akteuren und Wissenschaftlern, die eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien für möglich halten - auch ohne eine zeitliche Überbrückung durch den Neubau von Kohlekraftwerken oder längere Laufzeiten für Atomreaktoren.

"Die heute gültigen Laufzeiten bis etwa zum Jahr 2022 reichen völlig aus, damit die Atomenergie eine Brückenfunktion in das Zeitalter der erneuerbaren Energien hinein übernehmen kann", sagt Professor Martin Faulstich von der Technischen Universität München, der den Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung leitet. "Je länger Atomreaktoren oder auch Kohlekraftwerke laufen, desto weiter verzögert sich der notwendige Strukturwandel in der Energiewirtschaft."

In den vergangenen Monaten wurde eine Reihe neuer Studien veröffentlicht, unter anderem vom Sachverständigenrat und vom Umweltbundesamt. Konsens besteht darüber, dass der Bedarf in Deutschland bis zur Mitte des Jahrhunderts deutlich sinken wird, bedingt durch eine effizientere Energienutzung, aber auch durch den Rückgang der Bevölkerung. Wind- und Sonnenkraft, Erdwärme und Biomasse werden dann voraussichtlich die Basis der Energieversorgung bilden.

Dezentrale Strukturen könnten die heutigen Großkraftwerke ablösen

Auseinander gehen die Meinungen aber darüber, wie der Weg bis dahin gestaltet werden sollte. Zentral oder dezentral, diese Frage ist bei Energiemarktexperten hoch umstritten. Großkraftwerke und die heutige, darauf abgestimmte Form der Stromnetze behinderten den Umstieg zu einer modernen, klimaschonenden Energieversorgung, kritisieren die Anhänger der erneuerbaren Energien. Die Vertreter der Energiekonzerne führen hingegen an, dass Wind, Sonne, Wasser und Biomasse noch längst nicht "grundlastfähig" seien, also nicht in der Lage, bei Tag und Nacht jeden Strombedarf zu decken.

Doch wie lässt sich der Umstieg beschleunigen? "Es geht nicht nur darum, Windkraftwerke oder Solaranlagen zu installieren. Man muss vor allem den Aufbau eines neuen Stromnetzes voranbringen, das viele kleine Einheiten zu virtuellen Kraftwerken zusammenschließen kann", sagt Ingrid Nestle, Sprecherin für Energiethemen in der Bundestagsfraktion der Grünen. "Diese dezentralen Netze müssen dann europaweit miteinander verbunden werden, also auch mit den künftigen Solarkraftwerken in Nordafrika oder mit Offshore-Windparks in der Nordsee. Ein modernes Netz und dessen Management sind ebenso wichtig wie die Energieerzeugung selbst und die Entwicklung neuartiger Speichertechnologien."

Das Fraunhofer-Institut IWES mit Sitz in Kassel und Bremerhaven ist mit seiner Arbeit längst über die Theorie hinaus. Der stellvertretende Institutsleiter Kurt Rohrig entwickelte mit seinen Mitarbeitern ein "regeneratives Kombikraftwerk". Sie schalteten über Steuerungscomputer die Leistung von 36 bestehenden Anlagen zusammen, die Energie aus Wind, Wasser, Sonne und Biomasse erzeugen. Wind- und Sonnenkraftwerke sind abhängig von Wetterlage und Tageszeit, Biomasse-, Erdwärme- und Wasserkraftwerke nicht. In der Kombination der Anlagen zeigten Rohrig und sein Team, dass eine Vollversorgung mit Strom aus erneuerbaren Quellen bereits mit heutzutage verfügbarer Technologie möglich ist. Dafür wurde der Wissenschaftler Ende 2009 mit dem Klimaschutzpreis der Deutschen Umwelthilfe ausgezeichnet.

Dardesheim im Harz steigt komplett auf Ökostrom um

"Es geht nicht mehr um die Frage ob, sondern nur noch darum, wann wir eine zu hundert Prozent regenerative Energieversorgung haben werden", sagt Rohrig. Der Schwerpunkt der Forschungen zu diesem Thema liegt in Deutschland derzeit bei der Stromerzeugung. Die Vorhersagen für die Versorgung mit Wärme und Kraftstoffen sind weniger präzise. Rohrig glaubt jedoch, dass diese Teilsegmente des Energiemarktes ohnehin stärker zusammenwachsen werden: "Der Strom hat an unserer Energieversorgung heutzutage einen Anteil von etwa einem Drittel, zur Mitte des Jahrhunderts wird es sicher deutlich mehr als die Hälfte sein", sagt er. "Viel mehr als heute werden wir künftig Elektrofahrzeuge nutzen." Ein Speichermedium wie Wasserstoff wiederum, das mit Strom aus erneuerbaren Quellen klimaschonend gewonnen werden kann, lasse sich gasförmig auch als Treibstoff zur Wärme- und Kälteerzeugung oder zur Fortbewegung nutzen.

Die Gemeinde Dardesheim im Harz mit ihren rund 900 Einwohnern will mit der Energiewende so lange nicht mehr warten. "Stadt der erneuerbaren Energien" nennt sich Dardesheim bereits stolz. Mitte der 1990er-Jahre begann man im Ort mit der Nutzung von Wind-, Sonnenkraft und Biomasse zur Energieerzeugung. Das Fraunhofer-Institut IWES soll die vorhandenen Anlagen nun mit einem nahe gelegenen Pumpspeicherwasserkraftwerk vernetzen. So soll Dardesheim ganzjährig rund um die Uhr mit erneuerbaren Energien versorgt werden - auch für die Mobilität. Eine Stromtankstelle in der Stadt ist bereits installiert, Elektroautos werden vermietet. "Das kommt super an", sagt Bürgermeister Rolf-Dieter Künne. "Um das Jahr 2012 bis 2013 herum haben wir hier 100 Prozent erneuerbare Energien. Spätestens."