Wanderarbeiter in China kämpfen für kräftige Lohnerhöhungen. Das asiatische Land will nicht mehr die Werkbank der Welt sein.

Hamburg. Eine Lohnerhöhung um 70 Prozent, das klingt geradezu märchenhaft. Doch für jemanden, der weniger als 200 Euro im Monat verdient, dafür aber an sechs Wochentagen je zehn bis zwölf Stunden arbeitet und an nur fünf Tagen im Jahr Urlaub nehmen kann, stellt sich dies etwas anders dar - so wie für viele der 300 000 Menschen, die im chinesischen Shenzen bei dem Konzern Foxconn aus Taiwan, der unter anderem das iPhone für Apple herstellt, tätig sind.

Auch die Lebensbedingungen der bis zu 200 Millionen Wanderarbeiter in China sind nicht dazu angetan, den Neid von Mitteleuropäern zu wecken. Meist leben sie in Schlafsälen auf dem Fabrikgelände, haben keine Krankenversicherung, die Familie wohnt Hunderte oder gar Tausende von Kilometern entfernt auf dem Land.

Zwar mag sich Foxconn wegen einer aufsehenerregenden Selbstmordserie unter den Beschäftigten des größten Elektronikwerks der Welt zu der ungewöhnlich hohen Lohnanhebung entschlossen haben. Doch auch etliche andere Firmen in China gewähren ihren Arbeitern Einkommenssteigerungen von 20 bis 30 Prozent, nicht selten nach Streiks wie zuletzt etwa in Zulieferwerken von Honda und Toyota.

Im Westen wurde die Tatsache, dass im kommunistisch geführten China Arbeitskämpfe möglich sind, mit Verwunderung aufgenommen. "Aber wären die Streiks politisch ungewollt, würde darüber in China nicht in der Presse berichtet", sagt Jonas Keller, Länderexperte des OAV in Hamburg. "Lohnerhöhungen passen in das wirtschaftspolitische Ziel der chinesischen Regierung, den Binnenkonsum anzukurbeln und zunehmend eher technologisch hochwertige Produkte zu produzieren." Schon seit Jahren gehöre es insbesondere in der Provinz Guangdong, wo es zu den Streiks kam, zum politischen Konzept, die Billigarbeit nach und nach zu verdrängen.

So sind hohe Gehaltssteigerungen im Reich der Mitte "definitiv nichts Neues", erklärt Jens Aßmann, China-Referent der Handelskammer Hamburg: "Auch vor der Wirtschaftskrise gab es Zuwachsraten im zweistelligen Prozentbereich." Was die Beschäftigten dennoch aufbringt, ist nicht zuletzt die enorme Spreizung der Einkommen. "Führungskräfte können mitunter ähnliche Gehälter erzielen wie in Deutschland", sagt Keller. Während aber viele ausländische Firmen Löhne zahlten, die deutlich über dem Niveau der staatlich festgesetzten Mindestsätze von zum Beispiel 135 Euro pro Monat in Shanghai liegen, würden die Untergrenzen von anderen Betrieben umgangen.

Auch wenn die Konzerne in China zuletzt häufig über immer schmalere Gewinnspannen klagten, haben die höheren Gehälter bislang nicht zu deutlichen Verteuerungen der Produkte geführt. "In vielen Industrien, etwa der Elektronikbranche, ist die Lohnquote so gering, dass Lohnerhöhungen nur geringfügig ins Gewicht fallen", so Keller. Nach Angaben der Marktforscher von Gartner machen die Gehälter bei Foxconn nur 3,3 Prozent aller Kosten aus.

Dennoch zeigen die steigenden Arbeitskosten nach Einschätzung von Jens Aßmann eines klar: "Chinas wirtschaftliche Rolle beginnt sich zu wandeln. Bisher war man die Werkbank der Welt, ein Billiglohnland, dessen Funktion im Reexport in etablierte Industriestaaten bestand. Doch nun zielt die Produktion immer stärker auf den Binnenmarkt ab." So gibt es in dem Riesenreich von insgesamt 1,3 Milliarden Einwohnern inzwischen einen Mittelstand, der mehr als 150 Millionen Menschen umfasst und der sich in den nächsten Jahren um mehr als die Bevölkerungszahl Deutschlands vergrößern soll.

Dies erklärt, warum immer mehr ausländische Firmen nicht nur in China produzieren, sondern Produkte speziell für den dortigen Markt entwickeln. So hatte zum Beispiel der Hamburger Kosmetikkonzern Beiersdorf großen Erfolg mit einer Creme, die die Haut heller erscheinen lässt - so wie es dem Schönheitsideal vieler Asiaten entspricht.

Vor diesem Hintergrund leide die Attraktivität Chinas als Fertigungsstandort durch die Lohnsteigerungen nicht wesentlich, meint Aßmann. "Allerdings werden Unternehmen, die nur auf der Suche nach dem günstigsten Platz für Zulieferbetriebe oder für die Fertigung einfacher Güter sind, solche Fabriken mehr und mehr in anderen Ländern der Region aufbauen." So liegen die durchschnittlichen Monatsgehälter etwa in Vietnam unterhalb von 100 Euro im Monat.

Schon im Sommer 2008 hatte Adidas-Chef Herbert Hainer angekündigt, die Fertigung von Sportschuhen wegen der in China steigenden Löhne zunehmend auf andere Länder wie Laos, Kambodscha oder Vietnam zu verlagern. Doch noch immer werden 40 Prozent aller Adidas-Produkte in China hergestellt, sagte Firmensprecherin Katja Schreiber dem Abendblatt: "China ist unser wichtigster Produktionsstandort und wird es auch bleiben." Der Hauptgrund dafür: "China ist mittlerweile auch unser zweitgrößter Absatzmarkt." Es gibt aber noch andere Motive, die Fabriken dort zu lassen. "Mit den Zuliefererstrukturen in China kann kein Konkurrenzland nur annähernd mithalten", sagt Keller.

Hinzu kommt: Wer günstiger produzieren will, muss China nicht unbedingt verlassen. "Zwischen den verschiedenen Provinzen gibt es deutliche Lohngefälle", so Keller. "Am höchsten sind die Gehälter in den Regionen Peking, Shanghai und Kanton, im Landesinnern werden aber noch deutlich niedrigere Löhne gezahlt." Und auch hier kommt wieder die Politik ins Spiel, wie Aßmann erklärt: Produktionsverlagerungen in die ärmeren Landesteile seien erwünscht, "denn es ist die Strategie der Regierung, auch die westlichen Provinzen zu erschließen".