Wirtschaftsweise kritisieren das Versprechen der Steuersenkung als “unseriös“ und Deutschlands Kreditlast steigt immer weiter.

Hamburg. Das Kindergeld soll steigen, der Kinderfreibetrag ebenso, Erben und Unternehmen werden steuerlich entlastet: Beginnend mit dem 1. Januar verzichten Bund, Länder und Gemeinden nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition in Berlin auf Einnahmen von jährlich rund acht Milliarden Euro.

So sieht es das vom Kabinett verabschiedete "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" vor - und dies, obwohl dem Fiskus ohnehin wegen der Wirtschaftskrise in diesem und im nächsten Jahr nach der jüngsten Schätzung zusammen zwei Milliarden Euro weniger zufließen als im Mai erwartet. Dennoch haben die Steuersenkungen für die Bundesregierung höchste Priorität, später sollen sogar weitere Erleichterungen folgen. Von 2011 an sollen die Steuern nach den Vorstellungen von Union und FDP um 24 Milliarden Euro pro Jahr sinken.

Das Kalkül dahinter: Wenn die Bürger mehr konsumieren und die Unternehmen besser verdienen, wird die Wirtschaft angekurbelt, über ein steigendes Wachstum und damit höhere Steuereinnahmen können die Lücken in den öffentlichen Haushalten wieder geschlossen werden.

Auch wenn sich vor allem die Familien über die Entlastungen freuen dürften, ist eines sicher - zunächst wird die Staatsverschuldung noch weiter in die Höhe getrieben. Nach aktueller Planung muss Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im nächsten Jahr 86 Milliarden Euro neu aufnehmen. Schon heute liegt der Schuldenstand bei weit mehr als 1600 Milliarden Euro, wovon knapp 1000 Milliarden Euro auf den Bund entfallen und der Rest auf Länder und Kommunen. Jeder einzelne Bürger ist rein rechnerisch mit etwa 20 000 Euro verschuldet. Zum Vergleich: im Jahr 1960 waren es erst 520 Euro, im Jahr 1990 immerhin bereits 8480 Euro.

Ebenso gewiss müssen die Kassenwarte auf allen Ebenen, von der Bundesregierung bis in die kleinste Gemeinde, erst einmal noch konsequenter sparen. Und dies erregt massiven Unmut. "Die Spielräume für Ausgabensenkungen sind in den Kommunen sehr eng geworden", sagte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, dem Abendblatt. "Wir haben schon in den vergangenen Jahren so viel Personal abgebaut wie keine andere staatliche Ebene. Und von unseren Ausgaben sind im Schnitt 80 Prozent gesetzlich festgelegt."

Allein um das von der Bundesregierung vorgegebene Ziel für die Zahl der Krippenplätze zu erfüllen, müsse man bis zum Jahr 2013 noch sehr viel Personal einstellen. "Die Frage ist, wie wir das unter diesen Bedingungen realisieren sollen." Schon ohne die Steuersenkungen würden die Kommunen im Jahr 2010 wegen steigender Ausgaben mit einem Minus von 11,5 Milliarden Euro abschließen, so Landsberg. "Die Städte und Gemeinden werden sich weiter verschulden müssen - und am Ende wird der Bürger dies auch über höhere Gebühren bezahlen."

Heftige Kritik wird auch auf der Ebene der Bundesländer laut. Allein der Stadtstaat Bremen werde dadurch jährlich rund 38,5 Millionen Euro weniger einnehmen, erklärte die dortige Finanzsenatorin Karoline Linnert (Grüne). "Das können wir nicht verkraften und werden im Bundesrat deshalb gegen das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz stimmen."

Mit den 38,5 Millionen Euro könne Bremen 770 Lehrer bezahlen oder 6158 Kindergartenplätze finanzieren. Schließlich hätten die Bürger einen Anspruch darauf, dass die staatlichen Aufgaben wie Bildung und innere Sicherheit erfüllt werden. Vor diesem Hintergrund könne man eher von einem "Verschuldungsbeschleunigungsgesetz" sprechen, sagte die Senatorin. Ihr Berliner Amtskollege Ulrich Nussbaum drohte sogar mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch der rheinland-pfälzische Finanzminister Carsten Kühl (SPD) hält die Steuersenkungen für "verfehlt". Für die öffentlichen Kassen seien Steuerausfälle von acht Milliarden Euro in dieser Form nicht zu verkraften. Die "verdächtige Eile, mit der der Bund sein Maßnahmenpaket durch die Gesetzgebung treibt", erwecke den Eindruck, dass damit "jegliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit klein gehalten oder sogar ausgeschaltet" werden solle.

Tatsächlich zweifeln viele Ökonomen an der konjunkturfördernden Wirksamkeit des Regierungsbeschusses. "Steuersenkungsversprechen ohne solide Gegenfinanzierung, wie sie sich im Koalitionsvertrag finden, sind unseriös", kritisieren die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem am Freitag vorgelegten Jahresgutachten die Steuerpläne von Union und FDP in ungewöhnlich scharfer Form. Ohne harte Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben oder ohne Erhöhungen von Steuern oder anderen Abgaben könne eine Konsolidierung der staatlichen Haushalte nicht gelingen.

Auch der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel von der Universität Bremen hält den jetzt von der Regierung eingeschlagenen Weg für falsch. "Steuersenkungen dürfen nicht auf Pump finanziert werden, das ist ökonomisch gesehen Unfug", sagte Hickel dem Abendblatt. "Zurzeit verbieten sich aber auch Ausgabenkürzungen, weil sie die Wirtschaft eher bremsen würden. Es stellt sich eher die Frage, ob man nicht ein weiteres Konjunkturprogramm auflegen sollte."

Doch nicht nur ein Experte wie Hickel, der neoliberalen Theorien eher ablehnend gegenübersteht, sondern auch sein Professorenkollege Winfried Fuest vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) sieht keinen Sinn in den Steuersenkungsbeschlüssen der Regierung.

"Das wird alles andere als ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz werden", sagte Fuest dem Abendblatt. Vor allem fehle die Gegenposition in Form von Ausgabenkürzungen bislang vollständig. Somit ändere sich nichts an dem in Deutschland altbekannten Mechanismus: "Wir kennen bei der Staatsverschuldung nur eine Richtung - nach oben."

Bislang richten sich ohnehin alle Anstrengungen allenfalls darauf, einmal längere Zeit ohne neue Kredite auskommen zu können. Ein spürbarer Abbau des bestehenden Schuldenbergs wäre eine noch viel größere Herausforderung. Eine Berechnung des Bundes der Steuerzahler zeigt dies: Würden ab sofort keine Schulden mehr aufgenommen und würde die öffentliche Hand jeden Monat eine Milliarde Euro Altschulden tilgen, so würde es rund 138 Jahre dauern, bis Deutschland schuldenfrei wäre - wobei ein solches Szenario selbstverständlich ein enormes Wirtschaftswachstum voraussetzen würde.

So wird sich wohl auf absehbare Zeit nichts daran ändern, dass auch kommende Generationen jedes Jahr mit hohen zweistelligen Milliardenbeträgen allein für die Zinsen auf die Schulden belastet werden.