Uno-Menschenrechtsrat: Jean Ziegler, Vizepräsident des beratenden Ausschusses fordert Ende der Agrarsubventionen und faire Preise für Rohstoffe.

Hamburg. Abendblatt: Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wurden in den Industriestaaten bisher vor allem Vermögenswerte vernichtet. Wie stark trifft die Krise die Armen in Schwellen- und Entwicklungsländern?

Jean Ziegler: Der französische Schriftsteller Alphons Allais schreibt: "Wenn die Reichen abmagern, sterben die Armen." Die Vernichtung von vielen Tausend Milliarden Dollar von Finanzwerten durch die von Börsenhalunken ausgelöste Weltfinanzkrise hat in den 122 Ländern der südlichen Hemisphäre, wo 4,9 der weltweit 6,7 Milliarden Menschen wohnen, schreckliche Folgen. Durch die Finanzkrise nehmen die Armut, der Hunger und das Massenelend in vielen Ländern des Südens dramatisch zu.

Abendblatt: Können Sie Beispiele nennen?

Ziegler: Das Welternährungsprogramm (WFP) der Uno, das für die humanitäre Soforthilfe verantwortlich ist, hat über 40 Prozent seiner Mittel verloren. In Bangladesch wurde die Schülerspeisung für mehr als 700 000 meist unterernährte Kinder eingestellt. In Somalia, Nordkenia und anderen Ländern verteilt das WFP Tagesrationen, die 500 Kalorien unter dem Existenzminimum liegen.

Abendblatt: Gibt es auch Gewinner der Krise?

Ziegler: In der Dritten Welt nicht. Gewinnen tun bloß die Spekulanten von Goldman Sachs, der Deutschen Bank und anderen Philanthropen.

Abendblatt: Zur Jahrtausendwende hatte die Uno das Ziel proklamiert, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Ist dieses Ziel noch realistisch?

Ziegler: Die neun sogenannten Millenniumziele sind total unrealistisch. Im vergangenen April ist die Zahl der schwerstens, permanent unterernährten Menschen zum ersten Mal in der Geschichte über die Ein-Milliarden-Grenze gestiegen. Heute leiden 1,02 Milliarden Menschen unter chronischem Hunger und Armut. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Und das in einer Welt, die insgesamt vor Reichtum überquillt. Ein Kind, das heutzutage aus Hunger stirbt, wird ermordet. Denn es gäbe genügend Lebensmittel, um alle Menschen zu ernähren.

Abendblatt: Welchen Beitrag müssten Industrieländer, Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) leisten, damit sich diese Situation ändert?

Ziegler: Der IWF muss dringend alle Strukturanpassungsprogramme stoppen, die allesamt Hunger erzeugen. Er und die Weltbank müssen den totalen Schuldenerlass der 49 sogenannten LDP (Least Developed Countries) befördern. Sie sollten anstatt die Export- die Subsistenzlandwirtschaft fördern - also für eine regionale Selbstversorgung der Bevölkerung durch Ackerbau und Viehzucht sorgen.

Abendblatt: Inwieweit bedroht die hoch subventionierte EU-Agrarpolitik die Existenz der Bauern in Schwellenländern?

Ziegler: Sie zerstört die Landwirtschaft in Afrika. Auf jedem afrikanischen Markt - wie Bamako, Dakar, Yaounde - können Sie heute deutsches, französisches oder portugiesisches Gemüse und Früchte zur Hälfte oder zu einem Drittel (je nach Saison) des Preises der gleichwertigen afrikanischen Inlandprodukte kaufen. Unter diesen Bedingungen hat kein Bauer in den Ländern eine Chance, seine selbst erzeugten Produkte zu verkaufen. Von 53 afrikanischen Staaten sind 37 praktisch reine Agrarstaaten.

Abendblatt: Die Anfeindungen gegenüber dem Westen und seinem Lebensstil nehmen zu. Die Drohungen durch Terroristen zählen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu unserem Alltag. Wo sehen Sie die Wurzeln dieser neuen Aggression?

Ziegler: Es gibt den pathologischen und den vernunftgeleiteten Hass, die ich genau unterscheide. Der pathologische Hass produziert Terrorismus. Er gehört ins Reich des organisierten Verbrechens und muss bekämpft werden. Der vernunftgeleitete Hass schafft dagegen soziale Bewegungen, ein Wiedererwachen der Identität von Völkern und nationalen Widerstand gegen die vom Westen produzierte ausbeutende Weltordnung. Beispiel: Bolivien. Seit 2006 regiert dort mit Evo Morales - demokratisch gewählt - der erste indianische Präsident Lateinamerikas. Dank Nationalisierung der Erdöl-, Gas- und Minenvorkommen ist er dabei, ein bitterarmes Andenland in einen sozial gerechteren, beinahe blühenden Staat zu verwandeln.

Abendblatt: Woher kommt dieser "Hass gegen den Westen", den Sie auch in Ihrem gleichnamigen Buch beschreiben?

Ziegler: Der Hass ist das Ergebnis jahrhundertealter Verachtung und Unterdrückung. Er basiert auf einem verwundeten Gedächtnis, das jetzt wieder erwacht. Viele Völker des Südens erlitten durch Sklaverei und Kolonialismus der Vergangenheit tiefe Verletzungen, die ihnen bis heute eine gleichberechtigte Weiterentwicklung verwehrt haben. Doch sie beginnen, sich an die Wurzeln der Ungerechtigkeit zu erinnern und leisten Widerstand.

Abendblatt: Ist eine Wiedergutmachung für Verfehlungen wie Sklavenhandel und Folgen des Kolonialismus überhaupt möglich?

Ziegler: Ja. Wenn die westlichen Großkonzerne aufhören würden, die Bodenschätze und die Arbeitskraft der Völker der südlichen Hemisphäre zu plündern.

Abendblatt: Wie könnte dies konkret aussehen?

Ziegler: Der Energiekonzern Areva, der weltweit in Atomkraft führend ist, müsste für das Uran des Niger einen anständigen Preis zahlen. Dasselbe gilt für die kanadischen, belgischen und französischen Minenkonzerne in Katanga oder die englischen Diamantengesellschaften in Kasai in der Demokratischen Republik Kongo.

Abendblatt: In Ihrem Buch sehen Sie die armen Völker von einem "wirtschaftlichen Weltkrieg" bedroht. Wer ist aus Ihrer Sicht der größte Feind?

Ziegler: Die Plünderungen der Rohstoffe durch die westlichen Konzerne - wie ihn neuerdings auch China und in vermindertem Maße Indien betreiben. Zudem verhindert die durch das ausländische Kapital ausgelöste lokale Korruption die Errichtung demokratischer Rechtsstaaten.

Abendblatt: Welche Rolle spielen internationale Investoren?

Ziegler: Eine entscheidende. Die weltweite Diktatur des Finanzkapitals drückt sich in einer Zahl aus: 2008 kontrollierten die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne über 52 Prozent des Weltbruttosozialproduktes, so die Weltbank-Statistik.

Abendblatt: Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht die Austrocknung der Steuerparadiese in der Welt, die derzeit vorangetrieben wird?

Ziegler: Sehr wichtig. Essenziell! Solange die Schweiz, Luxemburg und andere Paradiese samt ihren Bankgeheimnissen den Fiskus der zivilisierten Staaten weiter ungestört plündern können, wird es keine Steuertransparenz und auch keine stabile internationale Finanzordnung geben. Die OECD ist mit ihrem Vorstoß, gegen Steuerparadiese vorzugehen, auf gutem Wege.

Abendblatt: Welche Welt wünschen Sie sich persönlich? Was zeichnet idealerweise eine humane Gesellschaft aus?

Ziegler: In der Uno-Charta von 1945, und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, welche beide von den 192 Mitgliedsstaaten der Uno unterschrieben worden sind, stehen die Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens, ohne die es keine Zivilisation gibt. Konkret heißt dies nach Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Das wünsche ich mir.