Essen. Ab sofort müssen Psychotherapeuten Sprechstunden anbieten. Das lange Warten auf die Therapie bleibt aber ein Problem, sagen Experten.

Bin ich nur überarbeitet und brauche mal wieder Urlaub oder ist das schon ein Burn-out? Steckt meine Tochter gerade in einer schwierigen Phase oder sind das Anzeichen einer Magersucht? Könnten meine Kopfschmerzen, für die niemand eine Ursache findet, psychosomatisch sein?

Ab dem 1. April kann sich jeder mit diesen und ähnlichen Fragen an einen Psychotherapeuten wenden, wie er bei einer Infektion auch einen Arzt konsultieren würde – nämlich in einer regulären Sprechstunde. Das ist nur eine von mehreren Neuerungen, die den Zugang zu psychologischem Rat und therapeutischer Hilfe schneller und einfacher gestalten sollen.

Oft monatelange Wartezeiten auf Erstgespräch

Bisher sind die meisten psychotherapeutischen Praxen reine Bestellpraxen gewesen: Patienten erschienen zu festen Terminen, die sie in der Regel schon Monate zuvor ausgemacht hatten. „Gerade in ländlichen Regionen, aber auch in manchen Großstädten, wie beispielsweise in Berlin, müssen Patienten extreme Wartezeiten in Kauf nehmen“, sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) Dietrich Munz.

Laut einer BPtK-Studie aus dem Jahr 2011 beträgt die Wartezeit auf ein Erstgespräch im Schnitt drei Monate; weitere drei Monate vergehen, bis ein Therapieplatz verfügbar ist.

Sprechstunde muss 100 Minuten pro Woche geöffnet sein

Die Möglichkeit, kurzfristig bei einem Therapeuten vorstellig zu werden, um sich beraten zu lassen, gab es bisher nicht. Nun ist aber eine Reform der Psychotherapie-Richtlinie in Kraft getreten, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im vergangenen Jahr beschlossen hat.

Sie besagt, dass niedergelassene Psychotherapeuten mit einem ganzen Praxissitz nun dazu verpflichtet sind, für mindestens 100 Minuten in der Woche eine Sprechstunde einzurichten und ihre telefonische Erreichbarkeit an mindestens 200 Minuten pro Woche zu gewährleisten. „Es handelt sich um Pflichtleistungen, die angeboten und auch bekannt gegeben werden müssen“, erklärt Dietrich Munz.

Therapeuten haben Spielraum bei Ausgestaltung

Bei der Ausgestaltung können die Therapeuten zwar entscheiden, ob sie eine offene Sprechstunde anbieten oder Termine vergeben, doch im Ergebnis könnte die neue Regelung dazu führen, dass künftig wesentlich mehr Menschen psychotherapeutischen Rat in Anspruch nehmen.

Der Besuch der Sprechstunde bedeutet nämlich nicht, dass auch eine Therapie begonnen wird – er diene vielmehr dem Zweck, festzustellen, ob „eine behandlungsbedürftige Störung gemäß der Psychotherapie-Richtlinie vorliegt“, so der Verband der Ersatzkassen (vdek).

Vielleicht ist einem Patienten mit Eheberatung geholfen

Dabei kann sich zum Beispiel ergeben, dass einem Patienten bereits mit einer Ehe- oder Paarberatung geholfen wäre, oder dass er in einer Selbsthilfegruppe den Rückhalt finden könnte, den er gerade benötigt.

Liegt hingegen eine Störung im Sinne der Richtlinien vor, informiert der Therapeut den Patienten über die Behandlungsmöglichkeiten. „Ziel ist, dass der Versicherte besser als heute in die Lage versetzt wird, eine bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Therapieverfahren oder Setting, bezogen auf seine Störung, zu treffen“, heißt es beim vdek.

Bevor die Beschwerden sich chronifizieren

Aus Sicht der Therapeuten seien Sprechstunden als niederschwelliges Angebot zu befürworten, so der BPtK-Präsident, auch wenn es „viele Kollegen jetzt erst sehr spät erfahren haben, wie die Regelungen im Detail aussehen“.

Positiv könnte sich vor allem auswirken, dass nun in vielen Fällen fachlicher Rat in Anspruch genommen werden kann, „bevor die Beschwerden Krankheitswert haben oder chronifizieren“. Was für viele körperliche Leiden gilt, gelte auch für die psychischen: „Je früher Menschen Hilfe suchen, desto schneller und besser kann man ihnen helfen.“

Behandlung kann auch anderer Therapeut übernehmen

Geregelt ist die neue Sprechstunde wie folgt: Jeder Erwachsene darf je Psychotherapeut bis zu sechsmal 25 Minuten Sprechstundenzeit in Anspruch nehmen, Kinder, Jugendliche und deren Eltern bis zu zehnmal 25 Minuten. Es können auch mehrere Psychotherapeuten konsultiert werden.

Eine etwaige Behandlung erfolgt allerdings nicht automatisch bei dem Therapeuten, dessen Sprechstunde man besucht hat. Es könne auch ein Kollege übernehmen, der auf die Erkrankung des Patienten spezialisiert ist oder eben gerade freie Kapazitäten hat.

Hilfe durch die Terminservicestelle

Munz vermutet jedoch, dass mit Inkrafttreten der neuen Regelungen das Grundproblem nicht verschwinden wird: „Wir müssen davon ausgehen, dass das Problem der Wartezeiten bis zum Therapiebeginn nicht gelöst ist.“ Mancherorts könne die Einführung von Sprechstunden und telefonischer Erreichbarkeit sogar zulasten der Therapiekapazitäten gehen. Schließlich müssen die Therapeuten jetzt zusätzlich Zeit für die neuen Sprechstunden frei halten.

Bereits seit Anfang 2016 müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen gemäß GKV-Versorgungsstärkungsgesetz Termine für Facharztbesuche vermitteln. Ab dem 1. April 2017 nun gilt der Service auch für das Erstgespräch in einer Sprechstunde oder die Akutbehandlung beim Psychotherapeuten.

Wartezeit darf maximal vier Wochen betragen

Die Wartezeit zwischen Anfrage und Termin darf maximal vier Wochen betragen. „Eine Auswahl hat der Patient in diesem Fall natürlich nicht“, sagt Munz. „Aber er erhält schnell einen Termin, um zu erfahren: Bin ich krank? Wie sind meine Beschwerden einzuschätzen? Was ist zu tun?“

Wenn die Servicestelle innerhalb eines Monats keinen freien Termin bei einem niedergelassenen Therapeuten finden kann, darf sie an die psychotherapeutischen Ambulanzen der Krankenhäuser verweisen. „Grundsätzlich befürworten wir diese Neuerung, damit Patienten rascher die Möglichkeit haben, Diagnostik und Beratung zu erhalten, sie ist jedoch ein deutlicher Hinweis, dass ambulante Behandlungskapazitäten fehlen“, sagt Munz.

Akutbehandlung muss nicht extra bei Kasse beantragt werden

Eine „wichtige Ergänzung des bisherigen psychotherapeutischen Leistungsangebots“ stellt nach Ansicht des BPtK-Präsidenten die neue Möglichkeit der Akutbehandlung dar. Braucht ein Patient besonders schnell qualifizierte Hilfe, etwa weil eine Verschlimmerung seines Zustandes befürchtet wird oder seine Arbeitsfähigkeit akut gefährdet ist, muss der Beginn einer Akutbehandlung innerhalb von vier Wochen sichergestellt werden. Diese besteht aus bis zu 24 je 25-minütigen Terminen, die nicht extra bei der Krankenkasse beantragt werden müssen.