Berlin. Yusra Mardini flüchtete aus Syrien über Lesbos nach Deutschland. Nun wird sie als Staatenlose bei Olympia in Rio de Janeiro antreten.

Wer ganz genau auf die Innenseite des linken Arms von Yusra Mardini schaut, sieht eine kleine Narbe. Der Schnitt auf der Haut wird für immer an dieser Stelle zu sehen sein, er geht auf einen Unfall in der Küche zurück. „Ach die“, sagt Yusra Mardini und lacht. „Ich wollte in der Küche zu viele Gläser aus dem Schrank holen, und plötzlich fielen 20 Gläser auf mich herab.“ Die Narbe erinnert sie also an eine Zeit in Syrien, in der noch kein Krieg war und sie nicht mit ihrer Familie fliehen musste.

Yusra Mardini hat mit ihren 18 Jahren schon so viel erlebt, dass es wohl bald Bücher oder Filme darüber geben wird. Im vergangenen Jahr wagt sie mit ihrer Schwester die Überfahrt von der Türkei nach Lesbos. Als in dem Schlauchboot der Außenbordmotor ausfällt und außerdem langsam die Luft entweicht, handelt Mardini schnell: Sie springt mit zwei anderen ins Wasser. Sie schieben und ziehen das Boot, bis sie das Ufer erreichen. 17 von den 20 Insassen an Bord können nicht schwimmen.

„Ich bin Schwimmerin – ich musste das tun“

In Berlin trainiert Yusra Mardini täglich.
In Berlin trainiert Yusra Mardini täglich. © dpa | Mirko Seifert

Heute sitzt sie im Vereinshaus von Wasserfreunde Spandau 04 und sagt: „Es war schrecklich kalt, mein Leben zog vor meinen Augen vorbei, ich dachte an meine Eltern.“ Sie sagt auch, dass sie keine Wahl hatte: „Ich bin Schwimmerin, ich musste das tun.“ Sie wird die Geschichte noch viel häufiger erzählen müssen, denn das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat Yusra Mardini als eine von zehn Flüchtlingen ausgewählt, um bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro anzutreten. Die Flüchtlinge treten als Staatenlose an und sollen statt ihrer Heimatflagge mit den fünf bunten Ringen auf einer weißen Fahne einlaufen.

Wer diese Fahne tragen wird, ist offen, aber schon jetzt ist Mardini mit ihrer Geschichte der Star des Teams. Sie ist eine von zwei Flüchtlingen, die von Europa aus nach Rio fliegen, sie hat eine offene und herzliche Art – und kann auch sportlich überzeugen. Ihr Trainer Sven Spannekrebs sagt, dass ihre Bestzeit mit 2:11 Minuten für 200 Meter Freistil schon sehr gut sei, auch wenn die Olympia-Norm bei 2:03 Minuten liege.

Sogar Hollywood hat sich schon gemeldet

„Vor allem das Medieninteresse“, sagt der Trainer, „hat uns ganz schön zu schaffen gemacht.“ Seit die junge Frau vor zwei Wochen von ihrer Teilnahme erfahren habe, versuche die Welt mit ihr in Kontakt zu kommen. Damit meint er, dass er sehr viele Absagen schreiben musste, von 800 bis 1000 Absagen insgesamt: An das „Time“-Magazin, an den „New Yorker“, an den US-Sender HBO, und als ein chinesischer Journalist plötzlich neben dem Becken stand, musste Spannekrebs ihn hinausbegleiten. „Es ist wichtig, dass sich Yusra jetzt vor allem auf ihr Training konzentriert.“

Das ist gar nicht so einfach, wenn es nebenbei noch viele Ämter zu besuchen und die Familie zusammenzuhalten gilt. Yusra Mardinis Vater lebt in einem Heim im Berliner Stadtteil Spandau, ihre Mutter weit im Osten der Stadt in Lichtenberg. Sie selbst teilt sich die Wohnung mit ihrer älteren Schwester. „Diese ganze Situation war nicht immer leicht“, sagt sie, „und im März ging es mir deshalb auch nicht gut.“ Der „Spiegel“ schrieb gar, sie „drohe zu zerbrechen“. Aber jetzt sagt sie: „Ich will das, was jeder bei Olympia will – am liebsten eine Goldmedaille.“

Syrische Freundinnen bestellen Bikinis bei ihr

Realistisch ist das für Rio de Janeiro noch nicht, aber für 2020 in Tokio. Obwohl sie schon in Syrien viele Meisterschaften gewann, konnte sie wegen der Flucht fast zwei Jahre nicht trainieren. Sven Spannekrebs ist aber begeistert von ihrem Willen. „Sie ist mental sehr stark“, sagt er, „und opfert viel Freizeit für dieses große Ziel.“

Die Verbindung mit Syrien ist für sie geblieben, über das Internet hat sie noch Kontakt mit Freunden, gerade jetzt im Ramadan. „Sie bestellen Bikinis bei mir, weil die hier günstiger sind.“ Sie selbst muss nicht mitfasten, weil das Ziel Olympia jeder Imam versteht. Aber sie betet regelmäßig. „Vor jedem Wettkampf schaue ich zum Himmel“, sagt sie, „und sage halt ‚Danke, Gott‘ oder ‚Gib mir Kraft‘ oder so was in der Art.“