Die Buddenbrooks nur überflogen oder Schiller nur vom Hörensagen zitiert? Macht nichts, sagt der französische Literaturprofessor Pierre Bayard. Ums Lesen kommt man nicht herum, entgegnet ihm der Hamburger Journalistikprofessor Bernhard Pörksen. Eine Streitschrift von einer Unparteiischen.

Lesen oder nicht lesen - das ist hier die Frage. "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat", dieser Titel klingt allzu verlockend, um nicht die Probe aufs Exempel zu machen. Ganz im Sinne des französischen Autors Pierre Bayard, der seine Leser zum selbstbewussten und kreativen Umgang mit Büchern animieren will (ob nun gelesen oder nicht), entscheide ich mich also bewusst gegen das Lesen. Überfliege lediglich ein paar Kapitel, lese das Vorwort und den Artikel eines mir sehr schlau erscheinenden Kritikers.

Ein Absatz des Buches fällt mir dabei ins Auge: "Wie man mit einem Lehrer über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat." Das trifft sich gut, habe ich mich doch mit Bernhard Pörksen (38), Professor am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, verabredet, um über das ungelesene Buch zu plaudern. Bayards ersten Tipp, "sich nicht schämen, ein Buch nicht gelesen zu haben", beherzige ich am besten gleich, denn für Gewissensbisse oder Nachlesen habe ich gar nicht genug Zeit.

"Ja, natürlich habe ich es gelesen. Es ist sehr unterhaltsam geschrieben. Ich glaube, es hat das Zeug zum Bestseller", so die erste Einschätzung von Prof. Dr. Bernhard Pörksen. Er ist es berufsmäßig gewohnt, schnell zu lesen, fünf Stunden hat er diesmal dafür gebraucht. Und: Er gehöre nicht zu den Leuten, die ein Buch nur vom Klappentext her kennen und dann darüber sprechen. Pierre Bayard dagegen bekennt sich offen als Nichtleser und beschreibt sein Dilemma: "Für einen Literaturprofessor ist es zum Beispiel undenkbar zuzugeben - auch wenn es für die meisten zutrifft -, dass er Prousts Werk nicht in seiner Gänze gelesen, sondern nur darin geblättert hat."

Der Autor unterscheidet vier Kategorien von Büchern: Bücher, die man nicht kennt, quergelesen hat, vom Hörensagen kennt oder vergessen hat. Über alle lässt sich vortrefflich reden, behauptet er, wenn man die dafür nötigen Techniken kennt. Das, was Bayard als Lesen bzw. Nichtlesen bezeichnet, sind für Bernhard Pörksen Strategien des aktiven Lesens, des Verdichtens, Auswählens und Filterns. "Es ist völlig legitim, ein Buch auf eine These hin auszuschlachten, nur gewisse Kapitel oder eine Zusammenfassung zu lesen. Das ist ein Zeichen von Klugheit und Selbstbewusstsein, nicht notwendig von Oberflächlichkeit."

Bluffen als legale Strategie unter Kollegen also? "Nein, das gibt es nicht. Ein Bluff funktioniert nur zwischen einem Laien und einem angeblichen Experten, der dem Laien etwas vorspielt. Trifft der Bluffer auf einen wirklichen Experten, dann wird er entlarvt", ist Pörksen überzeugt. Woran würde er denn erkennen, dass jemand über Bücher spricht, die er nicht gelesen hat? "Der Bluffer ist nie präzise, was Handlung und Figuren angeht. Er bleibt immer allgemein, diffus, wolkig." Sein Gegenüber einzuschüchtern, gehöre auch zu den tauglichen Stilmitteln, zum Beispiel mit Sätzen wie "Seit den Tagen von Kant wissen wir, dass..." oder "Jeder halbwegs Gebildete weiß, dass...". Mit dem Verweis auf andere Autoritäten würde der Bluffer versuchen zu verhindern, dass sein Gegenüber nachhakt. Gern erwähnt: "Bei Niklas Luhmann kann man nachlesen, dass...". Eine Strategie, die für ihn in Frage käme? "Scheinbar allwissend zu schweigen erscheint mir als eine gelegentlich erforderliche, elegante und doch moralisch akzeptable Variante des Bluffens." Also doch, immerhin...

Ein Meisterwerk des Bluffs sei allerdings das Buch von Pierre Bayard, kritisiert der Journalistikprofessor. Bayards zweiten Ratschlag, sich auf die Informationen des Mehrwissenden zu beziehen, fällt mir ein. "Aha, warum denn das?", frage ich und oute mich als ziemlich unwissend. "Der Titel verspricht etwas, was er nicht einlöst. Bayard behauptet, er würde Empfehlungen geben, wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Dabei spricht er die ganze Zeit über alle möglichen Bücher der Weltliteratur. Auch die vermeintlichen Tipps für Nichtleser verlangen sehr viel Lektüre und ein Gespür für das gebildete Gespräch. Das Buch ist keine Anleitung zum Nichtlesen oder Bluffen. Es ist eine Liebeserklärung an das Lesen und die Literatur."

Und tatsächlich begibt sich der Leser zusammen mit Bayard auf eine Lesereise, lernt die Hauptfiguren in Werken von Montaigne, Valery und Balzac kennen. Und ertappt sich in manch heikler Gesprächssituation: "Wenn sich zum Beispiel das Gespräch auf einer Abendveranstaltung um ein Buch dreht, das wir nicht gelesen haben, und wir versuchen müssen, eine gute Figur zu machen - entweder, weil das besagte Werk jedem gebildeten Menschen bekannt sein müsste oder weil wir den Fehler begangen haben, voreilig zu sagen, wir hätten es gelesen." Wer kennt sie nicht, diese Situationen, bei denen man am liebsten vom Erdboden verschluckt werden möchte! Kein Grund zur Panik, rät Pierre Bayard, und schildert, wie eine Romanfigur in Graham Greenes Roman "Der dritte Mann" vor einer Versammlung von Leuten über Bücher sprechen soll, die er angeblich selbst geschrieben hat. Indem er selbstbewusst seine Unkenntnis preisgibt, wirkt der Bluffer so originell, dass das Publikum ihm zu Füßen liegt. Auf die Frage, wo er James Joyce einordnen würde, antwortet Rollo Martins: "Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ich habe noch nie etwas von ihm gehört. Was hat er denn geschrieben?" Mehr Fingerspitzengefühl erfordert eine Gesprächssituation, die Bayard zunächst als die heikelste beschreibt: Mit einem Autor über sein Buch reden, ohne es gelesen zu haben. Bayard rät, entweder nur Gutes über das Buch zu sagen oder das Thema zu wechseln.

Diese Strategie des Bluffens fand ihre Anwendung (wenn auch unbeabsichtigt), als ich einen Nachrichtenmoderator zu seinem Buch über modernen Geschichtsunterricht befragen sollte. Vordergründig zumindest. Denn mein eigentlicher Auftrag war, etwas über sein Privatleben herauszufinden. Eine nicht ganz einfach zu bewältigende Situation, die ich aber mit viel Charme und Beharrlichkeit meisterte. Unterbewusst ahnend, dass die Beziehung zum anderen, wie auch immer sie beschaffen sein mag, der Beziehung zum Text den Rang abläuft. Es ist also im Zweifelsfall wichtiger, eine harmonische Gesprächssituation mit dem Gegenüber zu schaffen, als klug über sein Buch zu diskutieren. "Denn", so sagt Bayard weiter, "die Schriftsteller erkennen, dass die Äußerungen über ihre Bücher überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was sie zu schreiben glaubten."

Nur für die vierte und letzte im Buch behandelte Situation weiß auch der Franzose keinen Rat: Mit der oder dem Liebenden über Bücher sprechen, die man nicht gelesen hat. Bluffen in der Liebe? Das geht dann wohl doch zu weit!

Pierre Bayard: "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat", Kunstmann, 16,90 Euro.