Frösche, die Nietzsche kennen, und ein Junge auf der Flucht: In der Welt des Japaners Haruki Murakami ist nichts so, wie es scheint. Auch sein neuer Roman ist skurril und etwas wirr.

Haruki Murakami ist Spezialist für überraschende Plots und Figuren mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. In "Mister Aufziehvogel" verbringt der 30-jährige Toru Okada viel Zeit unten in einem Brunnen und meditiert in seiner eigenen Fantasiewelt.

In seinen Erzählungen "Nach dem Beben" lässt Murakami einen Frosch als sensiblen Bildungsbürger auftreten, der Nietzsche und Dostojewski zitiert, um einen Bankangestellten zur Teilnahme an einer riskanten Rettungsaktion zu überreden. Albtraum und Märchen, Skurriles und Eskapismus wirbelt der 55-jährige Murakami gern durcheinander.

Im neuen Roman "Kafka am Strand", der Geschichte eines verstörten Jungen auf der Flucht vor einem väterlichen Ödipus-Fluch, treibt Murakami nun alles auf die Spitze: Seinen Hang zu übernatürlichen Phänomenen, die Vorliebe für skurrile Figuren, unberechenbare Plots und drastische Sexszenen.

An seinem fünfzehnten Geburtstag flüchtet Kafka Tamura aus dem Haus des Vaters in Tokio, setzt sich in einen Bus und fährt in den Süden, nach Takamatsu. Der Junge hat nur leichtes Gepäck dabei, dem Vater hat er 400 000 Yen gestohlen. Unklar bleibt jedoch, was ihn zur Flucht veranlasst hat. Er findet Zuflucht in einer Privatbibliothek, deren Leiterin Saeki ihn an seine verschwundene Mutter erinnert. Hier läuft Murakami, der Großmeister der Mystifizierung, zu Höchstform auf: Nachts erscheint ein Geist in Kafkas Zimmer - in Gestalt der geheimnisvollen Saeki, allerdings als 15-jähriges Mädchen. Kafka ist vom Phantom fasziniert, noch mehr aber von der 50-jährigen Saeki. Die steigt unverhofft zu ihm ins Bett und führt ihn in die hohe Kunst leidenschaftlicher Liebe ein, was Murakami mit peinlicher Detailgenauigkeit zelebriert.

Da Murakami den Roman wie ein Puzzle mit parallel verlaufenden Handlungssträngen angelegt hat und immer neue Figuren einführt, werden die Zusammenhänge erst allmählich erkennbar.

Kafkas Vater stirbt unter mysteriösen Umständen, während Saeki ihrer großen Liebe nachtrauert und gelassen auf den Tod wartet. In einer grotesken Parallelhandlung erleben wir den tumben Katzenfänger Nakata, der entlaufene Katzen ihren Besitzern zurückbringt. Der Analphababet Nakata, der einen unheimlichen Katzenkiller namens "Jonny Walker" ermordet hat und sich ebenfalls auf der Flucht befindet, ist übrigens die faszinierendste Figur in diesem mit Anspielungen und Verwirrspielen überfrachteten Roman.

Mag sein, dass Murakami, der soeben Salingers "Fänger im Roggen" ins Japanische übersetzt hat, mit seinem Initiationsroman eine postmoderne japanische Variante eines Sushi mampfenden Holden Caulfield vorschwebte. Doch dieser junge Japaner hat weder Holdens Humor, noch ist der fatalistische Kafka fähig, seine Probleme optimistisch anzugehen. Obendrein will Murakami noch mit plumper Effekthascherei "Kafka am Strand" bedeutungsschwanger aufladen. Großartig sind allerdings die Exkurse über klassische Musik. Wie der völlig unbedarfte junge Lkw-Fahrer Hoshino, der Nakato als Anhalter mitnimmt, von einem einfühlsamen Cafebesitzer mit den Finessen einer Haydn-Komposition vertraut gemacht wird und dieser sich dann für diese Musik begeistert, das gehört zu den schönsten Passagen.

Traum und Wirklichkeit, Rationales und Irrationales nebeneinander und zusammen - beim Leser stiftet das hauptsächlich Verwirrung, weil der Mysterienspieler Murakami zwar möglichst viele Rätsel aufgeben will, ohne jedoch plausible Lösungen anzubieten.

Zurück bleibt ein konfuser 15-Jähriger, der sich zwar als altkluger Pseudo-Philosoph geriert, sich in der Welt jedoch so wenig zurechtfindet wie Franz Kafkas berühmter paranoider Dachs in seinem eigenen subtil konstruierten Gängesystem.

  • Haruki Murakami: Kafka am Strand. Du Mont Verlag, 637 S.; 24,90 Euro.