Ulla Hahn arbeitet in ihrem neuen Roman die Geschichte eines Wehrmachtssoldaten auf: “Unscharfe Bilder“.

Der neue Roman von Ulla Hahn ist, allgemein gesagt, eine einzige Apologie des Miteinanderredens, der Fragen und Antworten, des Nachhakens und der schmerzlichen Erinnerung. Es geht um die Generation jener Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkriegs, die in den 1960er-Jahren und auch noch lange danach von ihren Söhnen und Töchtern oft als "Täter" verurteilt wurden. Erst heute scheint eine andere Fragestellung möglich. Ohne stereotype Vorverurteilung wird nach persönlichen Motiven gefragt, wie es etwa Uwe Timm in "Am Beispiel meines Bruders" tut. Der Befragte in Ulla Hahns Roman ist Hans Musbach, ein alter Herr, gebildet und belesen, mit wachem Verstand und vielseitigen Interessen, ehemaliger Lehrer für Latein und Altgriechisch. Er lebt in einer Seniorenresidenz mit Blick auf die Elbe. In seiner Tochter Katja, knapp fünfzig Jahre alt, tritt ihm unvermutet eine wissbegierige, aber auch strenge Fragende gegenüber. Bei einem ihrer Besuche knallt sie ihm mit höhnischem Kommentar den Katalog zur Ausstellung "Verbrechen im Osten" auf den Tisch. Was sich anschließt, ist zwar formal von der Autorin nicht immer elegant gelöst, ist aber dennoch eine eindrucksvolle und eindringliche Erinnerungsarbeit. Mit Hinweis auf die Bilder von Erschießungskommandos warnt der Vater Katja: "Ich habe meine Bilder. Bilder, die du auch kennen musst." Und er beginnt zu erzählen. Er berichtet schwärmerisch von der Landschaft Russlands, von Verbrüderungsszenen mit russischen Bauern, von seinem Vorgesetzten mit Spitznamen "Fressfriese", der verrückt wurde, von Joachim, dem judenfreundlichen Nazi, von Karl, dem Deserteur, von Durst, Kälte, dem alltäglichen Tod. Und immer wieder von seinem einzigen Freund Hugo, der erfroren ist. Und er erzählt von Wera und seiner Liebe zu der russischen Partisanin. Katja ist in ihren Fragen unerbittlich, auch wenn sie gelegentlich selbst von Zweifeln geplagt wird: "War es richtig, den Vater so zu quälen? . . . Wenn wir die Erben der Verstrickung unserer Väter und Mütter in die Nazijahre sein wollen, wenn wir ehrlich Verantwortung für diese Geschichte mit übernehmen wollen, dann müssen wir auch die Erben der Leiden, der Verletzungen werden, all der zerstörten Lebenspläne der Deutschen . . ." So klingt es manchmal arg leitartikelhaft. Trotzdem zwingt sie den Vater in tiefere Erinnerungsschichten, in seine gut verborgenen Empfindungen, in Schmerz, Elend und, ja, auch Schuld. Am Ende weist Hans Musbach auf seine rechte Hand und sagt hilflos: "Die hat geschossen." Und etwas später: "Verzeih mir - wenn du kannst." Ulla Hahn schrieb diesen Roman aus großer Distanz, es geht nicht um ihren Vater, wie sie betont, auch urteilt sie nicht über die Figuren, sondern schildert einen Konflikt, der auch entstanden ist durch Schweigen. Erinnerung ist die Voraussetzung für Erlösung. (Jeanette Stickler)

  • Ulla Hahn: Unscharfe Bilder. Roman, DVA, 279 Seiten, 18,90 Euro.