Berlin. Überall nur alte Bücher und Noten: Unsere Kolumnistin entrümpelt das Haus der Eltern. Dabei macht sie eine erschreckende Entdeckung.

Staub in der Nase, Tränen in den Augen. Ich bin im Haus meiner Eltern, und beim Durchforsten des Bücherregals fällt mir dieses Foto in die Hände. Wer ist denn dieser Teenager darauf mit der monströsen Dauerwelle? Was für eine Mähne, sage ich. „Das bist ja du“, ruft meine Mutter. Wow, sage ich. Hammer. Ich poste dem Rest der Familie das Bild und ernte jede Menge Reaktionen.

Ich miste aus in diesen Tagen. Bei meiner Mutter, die sich verkleinert. Und das ist nicht so einfach. Im Einfamilienhaus, in dem sie lebt, steckt ihr Leben und das meines verstorbenen Vaters. Nicht, weil beide so lange dort wohnten. Sondern weil sie alles gut verpackt dort lagerten, was ihr Leben ausmachte. Mein Vater war Musiklehrer. Er hatte ein Schulorchester, einen Chor, ein Sinfonieorchester. Dann war er auch noch Kirchenmusiker. Meine Kindheit verbrachte ich vor Müdigkeit zusammengesunken auf Kirchenbänken und Konzertsaalsesseln in der Provinz.

Beethoven, Mozart, Bach: Die ganze Klassik-Truppe lagert in alten Kisten

Jedes seiner Konzerte lagert nun in Form einer Partitur und den Noten aller Stimmen. Beethoven, Missa in C. Partitur, Klavierauszug, Sopran, Alt, Tenor Bass (je 5). Mozart Requiem. Brahms, Bruckner. Bach, Weihnachtsoratorium. Kiste um Kiste lagert im Keller.

Mir fallen die Noten meines Großvaters in die Hände. Er war ebenfalls Musiker, Klavierlehrer, Chor-und Orchesterleiter. Ich habe ihn nie kennengelernt; er starb früh kriegsversehrt.

Die Noten sind mehr als 100 Jahre alt. Vergilbt, verstaubt, gebunden in muffig riechende Kartonagen. Ich ziehe an einem schwarzen Buchrücken und halte dann wieder Mozart-Sonaten. Ich ziehe an der nächsten Schrank-Schublade. Sie fällt dabei auseinander, so morsch ist sie.

Funke-Autorin Birgitta Stauber schreibt in ihrer Kolumne „Frauengold“ über Frauen, Familie und Gesellschaft.
Funke-Autorin Birgitta Stauber schreibt in ihrer Kolumne „Frauengold“ über Frauen, Familie und Gesellschaft. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Gesammelte Artikel in Sütterlin

Auf den Boden fällt eine alte Mappe mit Zeitungsartikeln in Sütterlin. West-Anzeiger. Hat der unbekannte Großvater gesammelt – und damit Schlagzeilen wie diese: „Das Ermächtigungsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 31. März 1933.

Dazu ein Aufruf an die deutsche Nation: „Männer und Frauen“, heißt es darin, „zeigt eure Freude und eure Ergriffenheit“. Und Kleinanzeigen: „Antreten zum Fackelzug, heute abend 6.45 Uhr“.

Schließlich das Dortmunder Volksblatt, Sonnabend, 26. November 1938: „Das weltpolitische Dreieck. Der zweite Jahrestag der Unterzeichnung des Antikomintern-Abkommens. Ansprache Ribbentrops.“ Dazwischen aus dem Jahr 1934, Wochenendausgabe 20./21. Januar: „Deutschlands Antwort an Paris und London“. Bericht über ein Außenministertreffen. Es ging um Abrüstung.

Der Großvater ein Nazi? Ach was, hieß es immer, der war ein Guter

Der Großvater hat Zeitungsseiten gesammelt. Das tun heute noch viele Leute. Das es alles Nazi-Zeilen sind – dafür kann er ja nichts. Und doch wird mir heiß. Warum hat er die gesammelt? Er war doch kein Nazi, heißt es in der Familie. Schließlich sollte er das Haus nebenan bekommen, das Juden gehört hatte. Soll er abgelehnt haben.

Mir wurde auch erzählt, er sei ein guter Katholik gewesen mit sehr hohem moralischem Anspruch. Ich blättere die dünnen Zeitungen durch. Lese jede Meldung und finde auch all die Notizen oder kleinen Artikel über irgendein Konzert, bei dem er mitgewirkt hatte.

Wie in Putins Russland, schießt mir durch den Kopf

Und doch bin ich tief erschrocken. Weil mir bewusst wird, wie Menschen mit der Presse indoktriniert wurden. Die Parallelen zu heutigen Zeit sind ja offensichtlich. Die Putin-Presse ist schließlich ein bedeutender Teil des verheerenden Krieges, der mit seinen Kämpfen, bei denen sich das Soldatenblut mit all dem Matsch in Schützengräben mischt. Menschen sind wohl die wichtigste Munition.

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Als ich mit meiner Dauerwellen-Mähne meiner Mutter half, die Gäste bei den vielen Festen und Hauskonzerten zu bewirten, war das alles kein Thema. Der Großvater war ja tot, was ich von ihm nur wusste, dass er einen Hühnerstall hatte, in den er gerne ging, während seine Klavierschüler falsche Töne spielten. „Fis“, soll er dann geschrien haben, „Fis“. Mein Vater machte es immer nach, und ich stellte mir den Großvater als sehr lustige Person vor.

Und doch sammelte er akribisch all diese Artikel. Als habe er die Geschichte festhalten wollen. Vielleicht auch als Beweis: „Schaut her, so war das damals“. Ich jedenfalls habe noch nie einen so persönlichen Bezug zur Nazi-Zeit gehabt wie in diesem Moment. Der Zeitgeist hat mich angehaucht, vergilbt, verstaubt, muffig. Und doch hat mich eine Eiseskälte ergriffen. 100 Jahre danach.

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