Berlin. Nach der Premierenlesung von Stuckrad-Barres “Noch wach?“ bleibt eine Frage: Funktioniert sein Buch auch abseits der Berliner Blase?

Still ruht der Saal. Der Zwischenapplaus eines geradezu liebevoll mitgehenden Publikums ist verklungen. Der Autor sucht und sucht die nächste Passage. Pausen solcher Länge hätte Benjamin von Stuckrad-Barre früher kaum ausgehalten und tapfer überblödelt. Doch etwas ist anders an diesem Premierenabend im ausverkauften Berliner Ensemble. Gönnt sich der würdig ergraute Entertainer trotz seiner Grundhibbeligkeit plötzlich Momente der Ruhe auf der Bühne?

Sein frischer Roman “Noch wach?“ ist auch anders – nachdenklicher, mutiger, erwachsener. 150.000 Exemplare hat der Verlag Kiepenheuer&Witsch gedruckt; diese Größenordnung ist selten. Großkritiker sehen einen Schlüsselroman, der sich an einen Gegner der XL-Liga wagt, wie einst Heinrich Böll und Günther Wallraff. Der unablässig brüllende Boulevard-Sender in „Noch wach?“ ist natürlich rein fiktiv, was Stuckrad so lange betont bis auch das Gegenteil nicht länger auszuschließen ist. Lesen Sie auch: Stuckrad-Barres "Noch wach?": Okay-Sein gegen Evil-Sein

Vordergründig geht es um das sexistische Machtsystem in einem Medienunternehmen, gleich danach aber um den Machtmissbrauch von Männern überall auf der Welt, darüber hinaus um die großen Fragen, auf welcher Seite der Macht ein Mensch stehen will, wie eine Gesellschaft Freiheit definiert, was ein auskömmliches Miteinander braucht und was nicht.

Der vermeintliche Schlüsselroman wird akribisch von Juristen gelesen

In fröhlicher Dreistigkeit betont Stuckrad-Barre immer, das Werk sei ein „Vexierspiel“, strikt Kunst also, die alles darf. Wird man ja wohl noch sagen dürfen. Denn das Buch wird derzeit besonders akribisch von Juristen gelesen, so wie mutmaßlich vor dem Veröffentlichen schon, da allerdings von Juristen, die zum Team Stuckrad-Barre gehören.

Das Publikum, Prominenz von Katja Riemann bis Sven Regner, weiß Bescheid. Sie kennen seine Bestseller, deren Thema meist lautete: „Ich und meine Sorgen.“ Das neue Werk zoomt auf zu: „Wir und unsere Probleme“. Trotz Falco zum Start, trotz der gewohnten Mentholzigaretten (Schweiz), trotz Ringelhemd und Stuckrad-Dynamik ist „Noch wach?“ etwas Neues. Stuckrad hat sich das gute alte, unbarmherzig Unterhaltsame bewahrt, aber großzügig angereichert: weniger ironische Distanz, mehr Position, weniger Oberflächenbeschau, deutlich mehr Mut, sich mit den Mitteln der Kunst gefährlich weit in die umtuschelten Grauzonen der Macht vorzuwagen, dorthin, wo auch der investigative Journalismus nicht hinreicht, so fiktiv, dass es fast schon real klingt.

Autor Benjamin von Stuckrad-Barre
Autor Benjamin von Stuckrad-Barre © picture alliance/dpa | Annette Riedl

Die Premierenlesung widmet er vor allem der Romanheldin Sophia, eine Bekannte aus der Therapiegruppe, die beim Sender arbeitet, das Interesse des manipulativ versierten Chefs weckt und anschließend Frauen mit ähnlichen Erfahrungen zu einer Kampfgruppe versammelt. Dazwischen die stets vergnüglichen Ausflüge zu Helmut Dietl, Wiglaf Droste und natürlich zu Udo Lindenberg und das Bizarre des Alltags, von der Feelgood-Managerin bis zur Dusche auf dem Dach, von notorischem Implementieren und Nationalhymnen-Karaoke. „Ach komm, Lebenswerk“, befindet der Autor.

Interview geben oder im KaDeWe schlemmen?

Zweifel? Na klar, jede Menge. Spaß haben? Muss ja. Ob das Buch funktioniert? Das wird die Lesung in Ingolstadt zeigen, abseits der Berliner Blase. Zum Schluss lässt Stuckrad-Barre das Publikum entscheiden, ob er entweder die Einladung des KaDeWe in die Schlemmeretage annimmt oder die Einladung von „BILD“, die um ein Interview bittet. Die Leute votieren fürs Schlemmen. Egal. Der Popliterat ist endgültig angekommen im überschaubaren Kreis der deutschen Relevanzschriftsteller. Das könnte Sie auch interessieren: Ist Springer-Chef Döpfner ein Opfer seines Machthungers?