Berlin. MeToo-Roman, Springer-Sittengemälde? Stuckrad-Barres neues Buch handelt von Machtmissbrauch. Aber hat es auch die Kraft zum Verändern?

375 Seiten. Also erstmal Suchwort eingeben: „Sex“ – 38 Fundstellen, darunter auch „ForschungSEXpedition“. „Springer“ – nur zwei. „Reichelt“ – null. „Döpfner“ – null. „Bild“ – 68, aber eher als BILDschirm; die Zeitung kaum. „Chefredakteur“ – immerhin 79. „Drogen“ – neun Mal, aber auch in Kombination mit – Verbot. Die erste Schnellrecherche durch „Noch wach?“, den neuen Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, verläuft enttäuschend für alle, die nach frischen Süffigkeiten aus einem deutschen Verlagshaus fahnden.

Klar gibt es Material zum Spekulieren. Aber „Noch wach?“ ist kein Anti-Springer-Buch wie damals von Günther Wallraff oder Heinrich Böll. Der Verlag dient vielmehr als Chiffre für männliche Machtsysteme, wie sie auch in einer ostwestfälischen Sparkassenfiliale existieren könnten. Das könnte Sie auch interessieren: Mathias Döpfner entschuldigt sich für abfällige Äußerungen

Die Asymmetrie der Macht zwischen den Geschlechtern

Es geht um mehr als einzelne Figuren, es geht um die größte aller gesellschaftlichen Schlachten: die Asymmetrie der Macht zwischen den Geschlechtern. Es geht um Bruderschaften, das Magnetische der Macht, vor allem aber um deren Missbrauch und die unendliche Mühe, diese über Generationen einstudierten Systeme überhaupt sichtbar zu machen. Mehr Entwicklungs- als Tatsachenroman schildert „Noch wach?“ auch die Lernkurve des Autors, der vom naiven Beobachter zum Schlüsselspieler wird.

Wie mächtig das Thema ist, bewies die seit Monaten anschwellende Nervosität vor dem Erscheinen von „Noch wach?“. Sensationelle 150.000 Exemplare hat der Verlag Kiepenheuer und Witsch gedruckt, aber vorab keinerlei Textproben verschickt wie sonst üblich – einerseits wohl aus Marketinggründen, andererseits aber auch aus der berechtigten Angst vor Advokaten, die per Einstweiliger Verfügung den Verkauf verhindern könnten. Ohne faktische Grundlage übte sich die erregungshungrige Hauptstadt-Blase also in ihrer Kernkompetenz, dem Raunen und Orakeln („Schlüsselroman“), was da wohl Skandalöses über Springer-Chef Mathias Döpfner oder den geschassten Bild-Chefredakteur Julian Reichelt zu erwarten sei. Lesen Sie auch: Ist Springer-Chef Döpfner ein Opfer seines Machthungers?

"Noch wach?": Wie der Roman zu einer Projektionsfläche wurde

Zufällig pünktlich zur Veröffentlichung wurden vertrauliche Mitteilungen bekannt, vermutlich zum Zweck, die Schurkenrolle neu zu besetzen. Anwälte betonten vorsorglich, dass mögliche Anschuldigungen nicht zuträfen, der „Stern“ zirkelt einen Döpfner-Titel auf den ersten Tag, da „Noch wach?“ zu lesen ist.

Medienprofi Jan Böhmermann startet einen Podcast zur Kultur im Hause Springer. So wurde auf der Berliner Bühne ein skurriles Stück geboten, was Stuckrad-Barre an das Theaterstück „Kunst“ der französischen Autorin Yasmina Reza erinnerte, wenn sich drei Männer über ein Bild zerstreiten, dass nur eines ist: weiß. Eine Projektionsfläche. Alle reden, alle fühlen, keiner weiß was.

So ist „Noch wach?“ auch ein Gesamtkunstwerk, das einige seiner Thesen über die atemlose Jagd nach Aufmerksamkeit von der ganzen Branche in Echtzeit vorspielen lässt. Nie in 25 Jahren Berliner Republik hat ein Roman eine derartige medial-politisch-gesellschaftliche Wirkmacht entfaltet und zugleich einen etwas aus der Mode gekommenen Weg der Gegenwehr gegen mediales Geschrei gewiesen: die Literatur.

Dennoch ist dort, wo sonst die Widmung steht, vermerkt, dass das Werk von realen Ereignissen inspiriert sei, aber eine fiktionale Geschichte, ohne jeglichen Anspruch, irgendetwas authentisch wiederzugeben – eine Vorsichtsmaßnahme, um teure Prozesse abzuwenden, die so klingt, als habe jener fiktive Berliner Medienanwalt mitformuliert, der im Roman auch vorkommt.

"Noch wach?" hat Züge eines Liebesromans

„Noch wach?“ hält, was das subtil inszenierte Vorspiel verspricht: Überraschung. Der Roman beginnt 2017 im Chateau Marmont, einem Hotel in Los Angeles am Vorabend des Skandals um den Produzenten Weinstein, mit dem die weltweite metoo-Bewegung begann. Dort, in Bungalow 89, hatte Stuckrad-Barre zuvor weite Teile seines Bestsellers Panikherz verfasst. Und auch dort, auf dem heiteren „Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters“ ist der Übergriff allgegenwärtig, wenn man ihn denn sehen will.

„Noch wach?“ hat zugleich Züge eines Liebesromans. Das literarische Ich pflegt die unschuldig-romantische und völlig unironische Freundschaft zu einem Senderchef. „Unsere Freundschaft bezog ihren Reiz und ihre Kraft von Beginn an gerade auch daraus, dass wir so unterschiedlich lebten und in vielem auch dachten.“

Der Senderchef wiederum beschäftigt einen soziopathischen Diktator als Chefjournalisten, einer dieser „ungeduldigen Aufdemsprung-TOP-ENTSCHEIDER, die absoluten Hammertypen, diese 24/7-Tyrannen, die funkspruchartig Befehle und Gedankenfetzen rausfeuerten. Grammatik oder Interpunktion galten als so was wie gewerkschaftsorganisiertes Schwächlingsgeplärre und wurden folglich vermieden.“

Über die Mechanismen des seriellen Missbrauchs

Immer wieder weist der Erzähler den Freund auf den als Journalismus getarnten Furor hin, was die Freundschaft belastet, aber lange Zeit erträgt. „Phantastisch, sagte mein Freund. Ich liebe dich, das weißt du doch. Ja, weiß ich, sagte ich. Ich dich auch! Und dann legte ich meinen Kopf auf seine Brust, musste jetzt doch noch ein bisschen weinen, was wohl die anderen dachten, ach, egal.“

Gleichzeitig lernt der Erzähler in seiner Therapiegruppe eine Frau kennen, 20 Jahre jünger, die für eben diesen Sender arbeitet. in heiterer Verzweiflung klärt die Frau den Erzähler über die Mechanismen des seriellen Missbrauchs auf, die Komplimente, den Sex zwischen scheinbarer Einvernehmlichkeit und tatsächlichem Machtgefälle, das Vertuschen und Abservieren.

Im Drachenblut seiner eigenen Dämonen gebadet

Hier der Freund, der abdriftet in Größenwahn und Ignoranz, der „all die menschen- und staatsverachtenden Tiraden, die sein Sender täglich, Stunde um Stunde ins Land spie, im Detail gar nicht kannte – und auch nicht kennen wollte“. Dort die junge Frau, die immer mehr Opfer präsentiert, die ihm, dem Mann, vertrauen und über Details berichten, aber auch von Scham und Machtlosigkeit. „Das ist immer so irre, was mutmaßliche Opfer alles beachten müssen, um glaubwürdig zu sein.“

Stuckrad, im Drachenblut seiner eigenen Dämonen ausgiebig gebadet, lässt den Erzähler an eigenen Widersprüchen leiden, auch an der eigenen Blindheit. Er fragt sich, warum er die Weinstein-Enthüllungen begrüßt, beim geschätzten Harvey Keitel schon skeptischer ist und von Woody Allen gar nicht mehr hören will.

Hat das Buch noch ein Nachspiel?

Ja, es schmerzt auch Männer, wenn andere Männer durchdrehen. Selbstquälerisches wechselt mit gewohnt bezaubernden Szenen, in denen etwa Elon Musk auftritt, der „lachte nicht beim Reden, sondern redete beim Lachen. Die Welt – ein Witz für ihn.“ Am Ende geht es „nicht um Frauen gegen Männer, es geht ja hier um Okay-Sein gegen Evil-Sein.“

Im Finale schließen sich die jungen Frauen zusammen, in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Der Erzähler mittendrin erinnert sich an eigene Erfahrungen mit Übergriffigkeiten im Alter von 19 Jahren und entdeckt Parallelen bei den Mechanismen. Doch die veröffentlichten Erfahrungen ändern nichts, sondern werden von der kollektiven männlichen Macht absorbiert. Die Freundschaft ist längst beendet; der Kontakt blockiert.

Das Buch ist stark. Aber ob Literatur tatsächlich die Kraft zum Verändern hat, ist noch nicht ausgemacht. Der Kampf Gut gegen Böse geht weiter. Spannend wird insofern das Nachspiel, dass das Gesamtkunstwerk „Noch wach?“ mit sich bringen wird. Das könnte Sie auch interessieren: USA: Murdoch-Sender "Fox News" entgeht Milliarden-Klage