München/Dorsten. Hans Magnus Enzensberger entging zu Lebzeiten nur knapp einem Mordanschlag durch seinen Pfleger. Sein Geständnis wirkt verstörend.

Der berühmte Schriftsteller überlebte den Anschlag, aber es war knapp. Der Mordversuch geschah im November 2020. Hans Magnus Enzensberger war damals schon über 90, lag im Krankenhaus und erholte sich von einem Sturz. Doch dem jungen Pfleger, der über seine Gesundheit wachen sollte, war Enzensberger offenbar zu agil.

Ihn störte es, dass der alte Herr aufstehen wollte, dass er nach ihm rief. Denn der Pfleger hatte die Nacht zuvor viel getrunken und wollte seinen Rausch ausschlafen – während der Arbeit. Also spritzte er dem Dichter ein starkes Beruhigungsmittel, um ihn zu sedieren. Enzensberger verlor das Bewusstsein, wurde auf die Intensivstation verlegt.

In Deutschland hat offenbar erneut ein Todespfleger sein Unwesen getrieben. Hans Magnus Enzensberger war nur eines von mehreren Opfern. Seit Dienstag steht der 26 Jahre alte Mario G. vor dem Landgericht München I, er ist angeklagt wegen zweifachen Mordes und sechsfachen Mordversuchs. Der aus dem Ruhrgebiet stammende Mann, der über eine Zeitarbeitsfirma an ein Münchener Krankenhaus vermittelt worden war, legt zum Prozessauftakt ein Geständnis ab. Seine Aussagen sind verstörend.

Todespfleger war jeden Tag betrunken

Es sei nicht seine Absicht gewesen, dass jemand stirbt, habe das aber in Kauf genommen. Er habe vor seiner Schicht immer massenweise Alkohol konsumiert und sich dann erholen wollen. „Da ich alkoholisiert war, gab es für mich nur die eine Option: Sie ruhigzustellen“, sagt der 26-Jährige und betont: „Es tut mir von Herzen leid.“

Unumwunden gibt er zu: „Salopp gesagt habe ich einen Kater gehabt.“ In den vier Monaten, die er in dem Münchener Krankenhaus arbeitete, will er jeden Tag getrunken haben. Und zwar in heftigen Mengen: Wenn der Fußballfan am Wochenende Bundesliga schaute, habe er mindestens 30 Gläschen Kräuterschnaps gekippt, dazu acht Bier. „Da kam der Ruhrpott durch“, meint der zwei-Meter-Mann aus Dorsten: „Vor die Kneipe uriniert, schlecht benommen.“

Der angeklagte Krankenpfleger (M.) beim Prozessauftakt in München.
Der angeklagte Krankenpfleger (M.) beim Prozessauftakt in München. © dpa | Peter Kneffel

Angesichts seines Lebenswandels wollte er sich während seiner Schichten schonen. „Wenn ich gearbeitet hab, hab ich zum größten Teil nichts gemacht.“ Weder habe er die Patienten gewaschen noch mit ihnen gesprochen, wenn sie unruhig wurden. Werte, die er in der Nacht messen sollte, habe er gefälscht.

Die Staatsanwältin spricht von einem „von Eigensucht getriebenen und nur auf sein eigenes Wohlbefinden konzentrierten Angeklagten“. Zudem habe er es genossen, dass die Ärzte ratlos waren, wenn es den Patienten plötzlich schlecht ging. Lesen Sie hier:Klinikreform: Was sich ab 1. Januar im Krankenhaus ändert

Enzensberger überlebte die Attacke um zwei Jahre

Laut Anklage spritzte der Mann den Patienten auf einer sogenannten Wachstation, einer Zwischenstation zwischen Intensiv- und normaler Station, Beruhigungsmittel, Adrenalin oder Blutverdünner. Bei den beiden Mordopfern handelt es sich um Männer im Alter von 80 Jahren und 89 Jahren, die mehrere Tage nach der Gabe der nicht verordneten Medikamente starben, ohne nochmals zu Bewusstsein gekommen zu sein.

Hans Magnus Enzensberger war ein prominentes Opfer des Pflegers.
Hans Magnus Enzensberger war ein prominentes Opfer des Pflegers. © Getty Images | Ulf Andersen

Der Fall erinnert an den des Patientenmörders Niels Högel (46), der in Oldenburg 2019 wegen 85-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. 2020 hatte das Landgericht München I zudem einen polnischen Hilfspfleger wegen Mordes an drei Patienten zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Für Hans Magnus Enzenberger ging die Sache vergleichsweise glimpflich aus. Von den sechs angeklagten Fällen des versuchten Mordes gehen allein drei auf Attacken auf Enzensberger zurück. Bei der dritten Attacke soll Mario G. Enzensberger sechs Ampullen Adrenalin gespritzt und eine lebensbedrohliche Erhöhung der Herzfrequenz ausgelöst haben. Entgegen seiner Patientenverfügung veranlassten die Ärzte bei Enzensberger eine künstliche Beatmung und konnten so sein Leben retten.

Enzensberger starb im vergangenen November im Alter von 93 Jahren – eines natürlichen Todes.