Attendorn. Noch nie sei die Achtjährige auf einer Wiese gewesen – fast ihr ganzes Leben wurde sie im Haus eingesperrt. Staatsanwaltschaft ermittelt.

Von irgendwo her dringen fröhliche Schreie herüber. Kinder werden auf dem nahen Stadtfest in Attendorn, einer 25.000-Einwohner Stadt im Sauerland, bespaßt. Kinder, die unbeschwert spielen, die draußen sind. Ganz normal. Eigentlich.

In einer Straße, die sich in Wurfweite des Festes befindet, war das Selbstverständliche jahrelang offenbar nicht selbstverständlich. Ein acht Jahre altes Mädchen soll dort fast sein ganzes Leben lang versteckt gehalten worden sein: von der Mutter und den ebenfalls im Haus wohnhaften Großeltern.

NRW: Mutter hielt Kind jahrelang versteckt

Bereits Ende September, so Siegens Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, hatte die Polizei das Martyrium des Mädchens beendet und sich Zugang zu dem Haus verschafft, in dem sie die Mutter mit dem Kind antraf.

Jahrelang war spekuliert worden, wo die beiden sich aufhalten. Erst dann gab es den entscheidenden Tipp. „Das Kind durfte das Haus nicht verlassen. Viel von der Außenwelt hat es nicht mitbekommen. Auch die Mutter hat das Haus so gut wie nie verlassen“, sagt von Grotthuss. „Es hat niemand mitbekommen.“

Gut bürgerlich ist die Wohngegend: moderne Bauten neben alten. Das Haus, in dem all das ungesehen geschah, ist unscheinbar: verwitterter Gartenzaun, ein Vogelhäuschen. Niemand öffnet, wenn es klingelt. Die Jalousien sind geschlossen, die Rollos teilweise heruntergelassen. Das, sagen Nachbarn, sei oft so gewesen. Eine Sozialkontrolle, wie sie auf dem Land üblich ist, habe es nicht gegeben.

Dem Kind gehe es den Umständen entsprechend gut, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Hinweise auf Misshandlungen oder Unterernährung lägen nicht vor. Es gebe Einschränkungen im Bewegungsapparat, die sich beim Treppensteigen zeigten und die womöglich auf Bewegungsmangel zurückzuführen seien, sagt Grotthuss.

Das Kind gab an, noch nie auf einer Wiese gewesen zu sein und noch nie einen Wald gesehen zu haben. Stattdessen soll sie vor allem in einem Zimmer bei verschlossener Tür gelebt haben.

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Mutter gab an, in Italien zu wohnen

Als das Mädchen 2013 geboren wird, sind Vater und Mutter offenbar schon kein Paar mehr. Mutter und Kind seien laut Einwohnermeldeamt im Juni 2015 nach Kalabrien in Italien umgezogen, was dem Vater den Kontakt zum Kind unmöglich machte. Feststeht: Die Mutter war nie in Italien wohnhaft, sondern hielt sich in Attendorn im Hause ihrer Eltern auf.

Der Vater, sagt dessen Schwester unserer Redaktion, habe Geschenke und Briefe an die ihm vorliegende Adresse in Italien geschickt – ungeöffnet sei alles zurückgekommen. Zudem: Immer wieder mal wurde die Mutter offenbar in der Attendorner Stadt gesehen.

„Anonymen Hinweisen, dass das Mädchen zusammen mit seiner Mutter bei deren Eltern in Attendorn lebe, ist das Jugendamt mehrfach nachgegangen“, teilt der Kreis Olpe am Sonntagnachmittag mit. Es seien aber „keine stichhaltigen Beweise“ gefunden worden, die diese Thesen bekräftigten. „Vorwürfe einer möglichen Kindeswohlgefährdung konnten nicht konkretisiert werden. Es lagen keine konkreten Beweise vor, dass das Kind nicht in Italien lebt.“

Mädchen im Haus eingesperrt: Großeltern sollen geholfen haben

Ins Haus ließen die Großeltern die Mitarbeiter des Jugendamtes und auch die Polizei nicht. „All das konnte nur mit Hilfe der Großeltern gesteuert werden“, sagt der Oberstaatsanwalt.

Von irgendwas müssen Mutter und Kind ja auch gelebt haben. Aber zur Motivlage schweigen sich die Beteiligten noch aus. Wir haben noch keine Erkenntnis, was dahintersteckt.“ Naheliegendste Vermutung: Es könnte die Angst bestanden haben, dass das Kind in einem anderen Fall nicht vollständig bei der Mutter hätte bleiben können.

Die Achtjährige befindet sich derzeit in einer Pflegefamilie. Die Mutter und die Großeltern, gegen die wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und Freiheitsberaubung ermittelt wird, befinden sich auf freiem Fuß. Den entscheidenden Hinweis gab es im Juli dieses Jahres. Ein Ehepaar, „das keine direkte Verbindung zu den Familien hat“, wie es der Kreis Olpe mitteilt, habe den begründeten Verdacht geäußert, dass das Kind gefangen gehalten würde.