Berlin. In Berlin ist ein Auto von der Straße abgekommen und in eine Menschenmenge gefahren. Ein Mensch wurde getötet, 32 weitere verletzt.

  • Am Mittwochmorgen ist ein Auto in Berlin in eine Menschenmenge gerast
  • Eine Lehrerin aus Hessen stirbt, mehrere Schüler sind schwer verletzt
  • Für die Polizei sind noch viele Fragen offen, der Täter war wohl "psychisch beeinträchtigt"

Die Wohnung des mutmaßlichen Todesfahrers liegt in einem ruhigen Viertel im Westen von Berlin. Viergeschossige Mehrfamilienhäuser, die Fassaden sind in warmen Rot-Tönen gestrichen. Im begrünten Innenhof kämpfen Vogelgezwitscher und das Rauschen der nahe gelegenen Stadtautobahn um die akustische Vorherrschaft.


Der Deutsch-Armenier Gor H. wohnt seit mehr als zehn Jahren im obersten Stockwerk, so berichtet eine Nachbarin. „Der war immer sehr nett und ich habe häufig Pakete für ihn angenommen“, sagt die Frau. Ein anderer Nachbar, etwa Anfang 30, erkennt Gor H. sofort auf einem Foto wieder. „Dass der so was gemacht hat, kann gar nicht sein“, platzt es aus ihm heraus. Besonders gut habe er den 29 Jahre alten Mann nicht gekannt. „Aber so wie ich den erlebt habe, kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen.“

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Doch Gor H. ist Tatverdächtiger. Er soll am Mittwoch über den Kurfürstendamm gerast sein, in einem silbernen Renault Clio. Der Polizei zufolge fuhr er auf den Gehweg, rammte Menschen, vor allem eine Schülergruppe aus Hessen und ihre Lehrerin und den Lehrer. Am Ende durchbrach er die Fensterscheibe einer Parfümerie. Die Lehrerin starb, mehrere weitere Menschen sind noch in Lebensgefahr. Insgesamt werden 32 Menschen verletzt. Die Ermittler gehen nicht mehr von einem Unfall aus. Keine Hinweise gibt es auf eine politische Motivation, etwa Islamismus oder Rechtsextremismus.

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    Doch immer deutlicher wird: Der Amokfahrer H. ist psychisch krank. Laut Ermittler gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der festgenommene 29-Jährige an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Die Staatsanwaltschaft hat die Unterbringung in einer geschlossenen Psychiatrie beantragt. „Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden Medikamente gefunden“, sagte Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner.
    Auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sagte, „dass es sich um die Amoktat eines psychisch schwer beeinträchtigten Menschen handelt“.

    Noch am Mittwoch wurde Gor H. erkennungsdienstlich erfasst. In den Dateien der Polizei war er in der Vergangenheit nach Informationen unserer Redaktion mehr als 20-mal etwa mit Diebstahlsdelikten und Körperverletzungen aufgefallen – allerdings nicht mit schweren Gewaltverbrechen wie etwa Tötungsversuchen. Und zuletzt 2013, also vor fast zehn Jahren. Zuletzt war er der Polizei nicht mehr aufgefallen.
    Wichtig jedoch: Laut Polizeiakte wurde der Amokfahrer Ende 2013 nach Informationen unserer Redaktion sogar für einige Monate in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. Der Grund dafür wurde bisher nicht bekannt.

    Franziska Giffey (M), informiert sich nach einem tödlichen Zwischenfall bei den Einsatzkräften.
    Franziska Giffey (M), informiert sich nach einem tödlichen Zwischenfall bei den Einsatzkräften. © dpa


    Auch der Eindruck nach der Tat erhärtet die psychischen Hintergründe der Amokfahrt: Ein Video, aufgenommen von einem Augenzeugen unmittelbar am Tatort, zeigt den Tatverdächtigen. Er wirkt zerstreut, apathisch, sagt: „Bitte Hilfe, bitte Hilfe.“ Zusammen mit einem Dolmetscher werde versucht, mehr „aus den teilweise wirren Äußerungen, die er tätigt, herauszufinden“, sagte Giffey im RBB-Radio. Doch bisher hat sich Gor H. nicht zu seiner Tat geäußert, heißt es.


    Zentral ist die Aussage der Schwester des mutmaßlichen Täters, die ebenfalls in der Berliner Wohnung leben soll. „Bild“-Reportern erklärt sie, ihr Bruder habe „schwerwiegende Probleme“. Auf Nachfrage erinnern sich die Nachbarn, dass im Haus schon vor der Amokfahrt einige Male die Polizei vorbeigeschaut habe. Ja, die Beamten seien wohl wegen Gor H. da gewesen. Warum, wüssten sie nicht.


    Mit Spezialkräften und einem Roboter durchsuchten Ermittler die Wohnung des Verdächtigen, etwa nach Waffen und Sprengstoff. Sie entdeckten Medikamente. Anzeichen für Depressionen oder Aggressionen des Täters habe es nicht gegeben, etwa massive Unordnung. Die Wohnung habe unauffällig gewirkt.

    Nach einem tödlichen Zwischenfall fliegt ein Drohne der Polizei über die abgesperrte Straße.
    Nach einem tödlichen Zwischenfall fliegt ein Drohne der Polizei über die abgesperrte Straße. © dpa


    Unauffällig ist auch das Profil, das Gor H. auf Facebook angelegt hat. Ende März postet er dort ein Foto von sich. Es zeigt ihn an einem See, roter Kapuzenpullover und Käppi. Wortbeiträge oder Kommentare scheint er nicht zu schreiben.
    Brisant wie rätselhaft bleibt vor allem eine Spur: Im Tatfahrzeug entdeckten die Ermittler Plakate. Wenig ist öffentlich bekannt über den genauen Inhalt. Es habe jedoch „Türkei-Bezug“, sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD).

    Das würde zur Biografie des Deutsch-Armeniers passen: Im Ersten Weltkrieg beging die türkische Seite, damals noch das Osmanische Reich, einen Völkermord an den Armeniern. Bis heute wirken die Bluttaten in der Beziehung von Armeniern und Türken nach. Und doch ist ein Zusammenhang der Plakate mit der Amokfahrt unklar. Er erschließt sich eher nicht. Schließlich zählt zu seinen Opfern vor allem die hessische Schulklasse. Es ist noch nicht einmal klar, ob die Plakate überhaupt dem Tatverdächtigen zuzuordnen sind. Das Auto, mit dem er in die Schülergruppe gerast ist, soll nämlich seiner Schwester gehören. Gor H. hatte es sich offenbar geliehen.

    Dieser Text erschien zuerst auf www.morgenpost.de