Berlin/London. Im Londoner Regierungsviertel breitet sich ein neuer Skandal aus. Es geht um einen Abgeordneten, der gerne im Parlament Pornos schaut.

Die Abgeordneten im britischen Unterhaus verfolgen nicht jede Debatte aufmerksam mit. Da sieht man schon mal Volksvertreter, die auf den grünen Bänken ein Nickerchen machen, oder solche, die eifrig auf ihren Mobiltelefonen herumtippen. Weniger üblich hingegen ist es, sich während einer Unterhausdebatte einen Porno anzuschauen. Aber genau das soll passiert sein: Ein männlicher Tory-Abgeordneter, so sagen mehrere seiner weiblichen Kolleginnen, sei dagesessen und habe auf seinem Telefon pornografisches Material gesichtet – und zwar mehr als einmal.

Der Abgeordnete ist bislang noch nicht genannt worden, laut Medienberichten handelt es sich jedoch um einen Hinterbänkler, also kein Mitglied des Kabinetts. Die Partei hat eine unabhängige Untersuchung eingeleitet. Die Vorwürfe gegen den Abgeordneten wurden am Dienstagabend an einem Treffen von Tory-Abgeordneten erhoben. Mehrere weibliche Fraktionsmitglieder berichteten über die Misogynie und den Sexismus, der ihnen regelmäßig von männlichen Kollegen entgegenschlägt. „Etwa 14 Abgeordnete standen auf und beschrieben ihre Erfahrungen – es war schockierend“, sagte ein anonymer Abgeordneter gegenüber der Presse.

Zeitung unterstellt Abgeordneter sexy Ablenkungsmanöver

Die Enthüllung folgte zwei Tage nachdem ein schmieriger Zeitungsbericht bereits für Furore gesorgt hatte. Das Revolverblatt "Mail on Sunday" publizierte am Sonntag einen Artikel, der die stellvertretende Labour-Chefin Angela Rayner als eine hinterlistige Circe darstellt: Wenn sie im Unterhaus gegenüber von Boris Johnson sitze, versuche sie ihn aus der Fassung zu bringen, indem sie abwechselnd das eine über das andere Bein lege – so ähnlich wie Sharon Stone im Film „Basic Instinct“.

Für diese bizarre Anschuldigung stützt sich die Zeitung auf einen anonymen Tory-Abgeordneten. Rayner feuerte zurück: „Ich werde beschuldigt, den hilflosen Premierminister ‚abzulenken‘ – indem ich eine Frau bin, Beine habe und Kleider trage“, twitterte sie. „Johnsons Cheerleader greifen auf verzweifelte, pervertierte Verleumdungen zurück, um seine Haut zu retten“.

Lesen Sie dazu auchLisa Paus: „Sexismus geht quer durch alle Parteien“

Sexismus im britischen Abgeordnetenhaus wohl keine Seltenheit

Der Zeitungsartikel und sein Verfasser gerieten auch im restlichen Westminster unter Beschuss. Der Premierminister selbst fühlte sich berufen, seine Opponentin in Schutz zu nehmen, und der Sprecher des Unterhauses, Lindsay Hoyle, zitierte den Chefredakteur der „Mail on Sunday“ zu einer Unterredung ins Parlament.

Dass diese Fälle von Sexismus keine Ausnahmen bilden, zeigt eine Recherche der Sunday Times: Die Zeitung berichtete am vergangenen Sonntag, dass gegen 56 Abgeordnete – sowohl Tories wie auch Labour-MPs – Beschwerden wegen sexuellem Fehlverhalten eingereicht worden sind.

Londoner Regierungsviertel: Frauen berichten seit Jahren von Übergriffen

Die Geschichte ist nicht neu: Seit Jahren berichten Parlamentarierinnen, politische Beraterinnen und andere Regierungsmitarbeiterinnen von Belästigung, Übergriffen und verbreiteter Misogynie im Regierungsviertel. Vor fünf Jahren wuchsen die Vorwürfe erstmals zu einem größeren Skandal aus. Mehrere Abgeordnete in beiden Parteien mussten damals zurücktreten – aber offensichtlich hat sich seither wenig geändert.

2019 kam eine parlamentarische Untersuchung zum Schluss, dass Mitarbeiterinnen von Abgeordneten „einem inakzeptablen Risiko“ sexueller Übergriffe ausgesetzt seien. Die höchste Staatsanwältin Großbritanniens, Suella Braverman, sagte am Donnerstag, manche männlichen Politiker würden sich „wie Tiere benehmen“.

Johnsons Corona-Partys dienen als schlechtes Vorbild

Dass eine solche Kultur in Westminster toleriert wird, habe auch damit zu tun, dass man das eigene Nest nicht beschmutzen will, schreibt der Journalist Stephen Bush in der Financial Times: Viele Politiker „befürchten, dass eine Beschwerde wegen Belästigung gegen einen Kollegen der anderen Seite hilft.“

Laut einem Fraktionsmitglied, das am Treffen am Dienstagabend anwesend war, kommt jedoch noch etwas anderes hinzu: Unter der Führung Boris Johnsons sei der Regelbruch normalisiert worden, sagte der oder die Abgeordnete dem Nachrichtenportal Politico.

Eklatantestes Beispiel hierfür sind die illegalen Feste im Regierungssitz während der Corona-Pandemie. Wenn sich der Premierminister selbst um Gepflogenheiten und Vorschriften hinwegsetzt, müssen auch die restlichen Politiker nicht fürchten, wegen Fehlverhalten belangt zu werden.

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen