Berlin. Stiko-Chef Thomas Mertens irritierte mehrmals mit Aussagen zu Corona-Impfungen. Jetzt sitzt er im neuen Expertenrat von Kanzler Scholz.

  • Der Ständigen Impfkommission (Stiko) kommt während der Corona-Pandemie eine wichtige Rolle zu
  • Die Entscheidungen der Experten rund um Stiko-Chef Thomas Mertens haben meist große Tragweite für die Impfkampagne in Deutschland
  • Doch klare Worte lassen oft auf sich warten – vor allem vom Vorsitzenden. Das sorgt für Kritik

Es ist eine Expertengruppe, die vor der Corona-Pandemie außerhalb von Medizinerkreisen wohl kaum jemandem bekannt war: die Ständige Impfkommission, kurz Stiko. Aufgabe der Runde aus 18 wissenschaftlichen Fachleuten ist es, die Politik und das Gesundheitswesen zu beraten.

In normalen Zeiten treffen sich die acht Frauen und zehn Männer zwei Mal im Jahr. Es geht dann etwa um Fragen, welche Bevölkerungsgruppen einen neu zugelassene Impfstoff verabreicht bekommen sollen und bei wem dies aus medizinischer Sicht besonders ratsam ist. Es ist eine eher unpolitische Tätigkeit.

Doch in den zurückliegenden Monaten der Corona-Pandemie hat sich für die Stiko einiges verändert. So musste sich die Runde viel häufiger beraten als früher, und in den Besprechungen ging es vorrangig um eins: Corona. Seit vor rund einem Jahr die ersten Impfstoffe gegen Covid 19 zugelassen wurden, steht die Stiko im Fokus der breiten Öffentlichkeit und auch der Politik.

Stiko-Chef Mertens kommt mit der Schlüsselrolle in der Corona-Pandemie nicht zurecht

Das gilt in besonderem Maß für den Stiko-Vorsitzenden Thomas Mertens. Der 71-Jährige Virologie und Hochschulprofessor an der Universität Ulm ist seit 2017 Chef der Expertenrunde. Ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen ist in der Pandemie eine Schlüsselrolle zugekommen, mit der die Fachleute aber offenbar bis heute nicht zurecht kommen – oder die sie partout nicht annehmen wollen.

Fest steht: Die Stiko-Beschlüsse haben massiven Einfluss auf die Maßnahmen der Corona-Bekämpfung. Die politisch Verantwortlichen sehen in einer möglichst schnellen Impfung vieler Menschen die Lösung im Kampf gegen Corona. Dagegen lassen sich Mertens und sein Forscherkreis oft viel Zeit mit Entscheidungen und strapazieren damit die Geduld der Politik.

Immer wieder betont der Stiko-Chef, dass das Gremium nur wissenschaftliche Empfehlungen abgebe. Das ungeduldige Drängen der Politik, als es etwa um Entscheidung zu Corona-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen, bei Schwangeren oder beim Boostern ging, wies Mertens mehrfach zurück.

Stiko lässt sich mit Empfehlungen viel Zeit – und irritieren damit die Öffentlichkeit

Er betont, es gehe um eine gründliche Abwägung zwischen dem individuellen Nutzen einer Corona-Impfung und möglichen gesundheitlichen Risiken. Um dies zu beurteilen, müssten ausreichend gesicherte Daten vorliegen. Anders gesagt: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Dieses Argument hatte Mertens in der Vergangenheit mehrfach angeführt. So hatte die Stiko Corona-Impfungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen deutlich später bekanntgegeben als vergleichbare Gremien in anderen Ländern. Das sorgte wiederholt für Stirnrunzeln, nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit.

Zum Beispiel hatte die Stiko noch bis 10. September keine Impfung von Schwangeren empfohlen. Auch bei der Impfempfehlung für Zwölf- bis 17-Jährige ließ eine Festlegung auf sich warten. Booster-Impfungen empfahl die Stiko zunächst nur für Menschen ab 70 Jahre, erst Mitte November folgte dann die allgemeine Empfehlung für alle Erwachsenen. Andere Länder waren da längst weiter.

Corona-Impfungen für Kinder: Die Stiko zögert

Auch als es jüngst um eine Corona-Impfempfehlung für Kinder zwischen 5 und 11 Jahren ging, sagte Mertens: "Die Datengrundlage für eine generelle Empfehlung ist im Augenblick aus Sicht der Stiko nicht gegeben." Entsprechend sprach sich das Gremium am 9. Dezember nur für Impfungen bei Fünf- bis Elfjährigen mit Vorerkrankungen und Kontakt zu Risikopatienten aus. Allerdings können laut Mertens auch gesunde Kinder auf Wunsch und nach ärztlicher Aufklärung geimpft werden.

Gerade dieser Punkt sorgt schon seit längerem für Durcheinander. Sobald nämlich die Europäische Arzneimittelbehörde EMA ein neues Corona-Vakzin in der EU für bestimmte Gruppen zulässt, kann es auch in Deutschland an sie verimpft werden, selbst wenn es keine Stiko-Empfehlung gibt.

Genau dieser Umstand löst bei vielen Menschen Verwirrung aus. Millionen Bürgerinnen und Bürger und auch die Politik richten ihre Entscheidungen an der Stiko aus. Und Impfen ohne das ausdrückliche Zuraten der Experten erscheint vielen in Deutschland als riskant. Verständlich.

Stiko-Empfehlungen haben in der Corona-Pandemie politische Tragweite

Spätestens hier wird aber klar, dass eine Empfehlung der Expertenrunde gerade in einer Pandemie durchaus politische Tragweite hat, auch wenn Mertens dies anders bewertet. Letztlich hebt oder senkt das Gremium den Daumen bei der Covid-Spritze für bestimmte Bevölkerungsgruppen und nimmt damit unmittelbar Einfluss auf den weiteren Verlauf der Pandemiebekämpfung.

Statt aber die zentrale Stellung anzuerkennen, die die Stiko in der Corona-Krise zwangsläufig hat, schaffte es Mertens zuletzt mehrfach, die Öffentlichkeit zusätzlich zu verwirren. Besonders groß war die Aufregung Anfang Dezember nach einem Podcast-Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Aufregung nach Mertens-Aussage zu Corona-Impfungen für Kinder

Dort hatte Mertens erklärt, wenn er ein sieben- oder achtjähriges Kind hätte, würde er es „wahrscheinlich jetzt nicht impfen lassen“. Er riet also gewissermaßen ab. Dabei gab es zu dem Zeitpunkt bereits eine EMA-Zulassung für Kinderimpfungen in diesem Alter, aber eben noch keine Teilempfehlung der Stiko. Der Virologe wurde daraufhin heftig angegangen. Die Wellen schlugen hoch.

In aufgeheizten Netz-Debatten wurde der oberste Impfexperte des Landes sogar als Impfgegner bezeichnet. Später sah sich Mertens gezwungen, Dinge gerade zu rücken. Es sei ein „Fehler“ gewesen, dass er überhaupt etwas Persönliches gesagt habe. Und es sei „natürlich grober Unfug“, ihn als Impfgegner zu bezeichnen, „ich werde niemals ein Impfgegner sein können und das bin ich auch nie gewesen“.

Unprofessionelle Stiko-Ankündigung bei "Markus Lanz"

Auch in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ hatte der Stiko-Chef bereits Mitte November für Irritationen gesorgt. Fast beiläufig kündigte der Virologe damals an, dass die Stiko am Folgetag den Booster für alle ab 18 empfehlen werde. Eine so wichtige Neuigkeit für die Pandemie-Bekämpfung in einer abendlichen Plauderrunde fallen zu lassen, schien vielen in höchstem Maße unprofessionell.

Zwei Wochen nach seinem umstrittenen TV-Auftritt räumte Mertens wiederum ein, die Stiko sei beim Thema Boostern zu langsam gewesen. Bei Beschlüssen zu den Auffrischimpfungen habe man „aus heutiger Perspektive“ bestimmte Entscheidungen zu spät getroffen, sagte er. Es wäre „wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen“, betonte Mertens im Rückblick.

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Was bleibt, ist der der Eindruck, als würden in der Corona-Krise in Deutschland mit die wichtigsten Impfentscheidungen von einem verwirrenden Professor getroffen werden. Am vergangenen Dienstag nun hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Ulmer Virologen gemeinsam mit anderen Forschern in ein neues Expertengremium berufen. Mertens Aufgabe: Er soll Empfehlungen für die Corona-Bekämpfung erarbeiten.