Berlin. Immer mehr Neugeborene und Kinder müssen wegen des RS-Virus stationär behandelt werden. Warum sich das Virus gerade jetzt so schnell ausbreitet.

"Wir schaffen es gerade so", sagt Oliver Heinzel unserer Redaktion. Er ist Oberarzt auf der Kinder- und Jugendstation des Universitätsklinikums von Tübingen. Am Freitag habe sich die Lage zwar kurzfristig entspannt, "aber das kann sich sehr schnell wieder ändern."

Heinzel spricht nicht von Corona: Seit einigen Wochen landen bundesweit immer mehr Kinder und Jugendliche mit dem RS-Virus, einer Atemwegserkrankung, im Krankenhaus. "Hier in Tübingen hatten wir am Donnerstag zehn Kinder mit RS, eines davon auf der Intensivstation", erklärt Heinzel. In Stuttgart seien es am selben Tag 28 gewesen. "Wir sehen eine sehr starke Welle. Die Ballungsräume sind am Limit."

RS-Virus steht für Respiratorisches Synzytial-Virus. Symptome und saisonales Auftreten ähneln der Grippe: Schnupfen, Husten, Halsschmerzen und Fieber. Bei schweren Verläufen kommt oft es zu einer Bronchitis, Bronchiolitis oder einer Lungenentzündung.

RS-Virus: Stundenlange Wartezeiten in Berliner Klinik

Im gesamten Land spitzt sich die Lage in den Krankenhäusern zu. Zahlreiche Kinderkliniken können fast keine Patienten mehr aufnehmen. In einem Brandbrief, der dem "RBB" vorliegt, warnen Kinderärztinnen und -ärzte der Rettungsstelle des Berliner Virchow-Klinikums vor einer Notlage auf der Kinderstation. Dem Schreiben zufolge müssten Eltern und ihre erkrankten Kinder teilweise bis zu sieben Stunden auf eine Behandlung warten, manche würden wieder gehen, ohne einen Arzt gesehen zu haben.

Die Vivantes Klinken in Berlin sind einer Sprecherin zufolge "stark ausgelastet", die meisten Betten mit Kindern und Jugendlichen mit Atemwegsinfekten belegt. Auch in der Uniklinik Köln sind die Kinderstationen weiterhin "sehr stark belegt", sagt Jörg Dötsch.

Gleiches gilt laut dem Leiter der Kinder- und Jugendmedizin für die Intensivstationen: etwas mehr als 20 Patienten mit RS-Viruserkrankung auf den Normalstationen, zwei bis drei Kinder auf den Intensivstationen. Das ist nicht nur ein hoher Anteil der hospitalisierten Kinder, die Intensivpflege benötigen. Es strapaziert auch die ohnehin dünnen Intensiv-Kapazitäten.

Lungenentzündungen bei schweren Verläufen

Auch im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg haben die Einlieferungen von RS-Patienten zugenommen. In den vergangenen Wochen seien im Schnitt acht bis 14 Kinder pro Tag mit dem RS-Virus oder anderen Atemwegserkrankungen stationär behandelt worden, teilt Jun Oh, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit. Die diesjährigen Zahlen lägen "deutlich" über denen des Vorjahreszeitraums, so der Mediziner.

Betroffen vom RS-Virus sind alle Altersgruppen, auch bei Erwachsenen kann eine Infektion schwer verlaufen. Aber besonders Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind gefährdet: Von den Kindern, die mit dem Virus ins Krankenhaus eingeliefert werden und kein erhöhtes Risiko haben, sterben laut Robert-Koch-Institut 0,2 Prozent, bei erkrankten Frühgeborenen ist es etwa ein Prozent. Einem besonderen Risiko sind Kinder mit angeborenem Herzfehler ausgesetzt. Bei ihnen verläuft die Erkrankung in mehr als fünf Prozent der Fälle tödlich.

Corona-Maßnahmen haben RS-Welle im letzten Jahr verhindert

Behandelbar ist das RS-Virus nicht. Genau wie bei der Grippe gibt es nur sogenannte symptomatische Therapiemethoden, die also die Symptome lindern, nicht aber die Erkrankung selbst bekämpfen.

Der Höhepunkt der jährlichen RS-Welle ist üblicherweise im Februar oder März, die jetzige Welle begann bereits im September. Diese frühzeitige Entwicklung habe mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu tun, sagt Jörg Dötsch. Im vergangenen Jahr sei die RS-Welle im Grunde ausgefallen. Kinder, die während der Pandemie geboren wurden, seien noch nicht in Kontakt mit den Viren gekommen – jetzt erkranken sie alle gleichzeitig. "Das Virus trifft jetzt auf ungeübte Immunsysteme", bestätigt Oliver Heinzel.

Dazu komme, dass normalerweise gegen das RS-Virus geimpft werde, so Jun Oh, vom UKE Hamburg. Für diese Maßnahme kam die jetzige Welle jedoch zu früh. Für das Personal an den Kinderkliniken bedeutet die RS-Welle eine weitere Belastung. Die Menschen seien ohnehin schon "sehr erschöpft", sagt Jörg Dötsch. "Für viele Pflegekräfte und Ärzte ist die Tätigkeit so anstrengend, dass sie am Limit arbeiten und einige auch auf eine Teilzeittätigkeit reduzieren."

Prognosen über den weiteren Verlauf schwierig

Die Berliner Charité sei bestrebt, die Situation nach den Warnungen aus ihren Kinderstationen zu verbessern, "soweit das in der derzeitigen Pandemiephase möglich ist", so ein Sprecher. Man habe mehr Personal eingestellt, Kinder, die "aus Kapazitätsgründen" nicht aufgenommen werden können, würden verlegt.

Wie sich die Welle entwickelt, ist schwer abzusehen. Statistiken aus Großbritannien, wo RS noch früher ausgebrochen ist, ließen befürchten, dass die Zahlen auch in Deutschland weiter steigen, so Oliver Heinzel von der Uniklinik in Tübingen. Prognosen seien aber sehr schwierig, da sich eventuell auch die Corona-Maßnahmen der nächsten Wochen auf die Welle auswirken.

Heinzel und seine Kollegen appellieren dafür, möglichst viele Kinder gegen Grippe zu impfen. Der Grund: Sie befürchten, dass zusätzlich eine starke Welle an Grippepatienten über die Krankenhäuser rollen könnte. Das könne dann höchst problematisch werden.