Berlin. „Der Sex meines Lebens“ ist nicht nur ein Buch über die Bettgeschichten einer Frau. Es geht um Lust, Begehren und Identitätsfindung.

Lust und Begehren, Beschämung und Enttäuschung – im Buch „Der Sex meines Lebens“ (Ullstein-Verlag) erzählt eine Frau über ihre Bettgeschichten. Nicht voyeuristisch – oder jedenfalls nicht häufig. Der Sex zu den Männern ist ein Versuch, sich selbst nachzuspüren, die eigene Realität, die eigenen Gefühle zu identifzieren, so die Autorin, die sich „Anonyma“ nennt.

In der Biografie einer Frau zwischen 50 und 60 geht um den eigenen Körper und um viele fremde Körper. Die Autorin, die anonym bleiben will, möchte erreichen, dass viel mehr über Sex geredet wird. Ohne Scheu, Angst oder Selbstbetrug. „Ich wollte verstehen, was ich erlebt und empfunden habe und eine Sprache dafür finden, vor allem für den Sex“, so die Autorin. Die Idee für das Buch, mit dem sie an die neue Frauenbewegung anknüpfen will, hatte sie übrigens beim Sex.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Anonyma: Ich wollte verstehen, was ich erlebt und empfunden habe, und eine Sprache dafür finden, vor allem für den Sex. Und ich würde die Menschen gern dazu bringen, über ihren eigenen Sex nachzudenken und zu sprechen. Weil er in unseren Leben eine große Rolle spielt, weil man, wie ich finde, viel mehr von sexueller Gesundheit, Zufriedenheit, Stimmigkeit sprechen sollte. Aber davon sind wir auch im Jahr 2021 verrückterweise noch immer sehr fern.

Das hat auch etwas mit unserer Kultur zu tun, der Trennung von Geist und Körper und der uralten Verächtlichmachung des Körpers. All das steckt vermutlich tief in uns. Witzigerweise ist mir die Idee beim Sex gekommen. Das passiert mir jetzt öfter. Andere kriegen gute Einfälle beim Duschen, ich krieg sie beim Joggen, Yoga oder Sex. Aber nur, wenn er gut ist, dann kommt man in einen Flow von Kopf und Körper und es zünden Gedankenblitze.

Wollten Sie schon immer über Ihr Intimstes berichten – oder wie ist es dazu gekommen?

Überhaupt nicht. Ich will nicht mein Intimstes zu Markte tragen. Und es nervt mich sehr, dass der Markt gerade das vor allem bei Frauen honoriert: Je intimer und dramatischer das möglichst authentische Memoir, desto mehr Gewinn. Das ist angesagt und auch das Netz fördert das Vom-Ich-Erzählen. Aber ich mag mich nicht prostituieren.

Das (anonymisierte Autoren-)Ich nutze ich, um meine Gefühle ehrlich zu beschreiben, damit andere sich dazu in Beziehung und auseinander setzen; das Ich ist dafür da, individuelle und gesellschaftliche Gewohnheiten, Muster, Strukturen sichtbar zu machen. Es ist auch ein poetisches Ich und ein Stellvertreter-Ich.

Lesen Sie auch: Sexualtherapeutin: Die Scham beim Seitensprung ist vorbei

Warum ein Buch über Sexualität?

Für Sexualität habe ich mich schon immer interessiert, nicht nur praktisch, vor allem auch theoretisch, für die Sexualwissenschaft und für das, was man mal „sexuelle Diskurspraktiken“ nannte. Also viel gelesen: Freud, Foucault, Illouz, Schnarch, Henning, Davidson, Tao, Tantra, Mystizismus, Beauvoir, Kinsey, Hite, Jong, von Braun, Penny, Stokowski usw. Und in die Literatur hinein, und da fiel mir auf, je mehr ich darauf achtete, dass selbst die großartigsten, poetischsten, selbstreflektierten, kritischen Freigeister unter den Schriftsteller/innen es extrem selten darauf anlegen, dem sexuellen Empfinden auf den Grund zu gehen.

Wie geht man der Sexualität auf den Grund? Welche Fragen haben Sie sich gestellt?

Was spüren wir beim Sex? Was sagt das über uns aus? Auch Lisa Taddeo (Kult-Autorin aus den USA, die in „Three Women“ und „Animal“ über sexuelle Erkenntnisse von Frauen schreibt, Anm. d. Red.) blieb da beispielsweise sehr an der Oberfläche und hinterfragt den Orgasmus und das Fühlen beim Sex überhaupt nicht. Ich glaube da vieles nicht, was ihre Protagonistinnen als gesetzt geben: Orgasmuskriegen, Befriedigung empfinden. Ich glaube, die meisten Menschen lügen da und auf Umfragen kann man kaum zählen. Außerdem ging mir das konservativ-amerikanische Frau-als-Opfer-Finale auf den Keks.

Was schwebt Ihnen vor?

Ich suche ein selbstbestimmtes Begehren, von Frauen wie von Männern. Den Kick zum Schreiben und zum Ton gaben mir dann - beim Joggen, mit Kopfhörern im Ohr - die von Sophie Rois gelesenen „Skizzen der Vergangenheit“ von Virginia Woolf, Minute 2:25. Die Annäherung ans Empfinden des Körpers, wenn es vom Kopf sein gelassen wird. Virginia Woolf kam ganz nah ran. Aber eben auch nicht ans Zentrum. War ja auch eine ganz andere Zeit.

Auch interessant: Schwierige Affären – Wie Corona den Seitensprung verändert

Die Zahl der Sexualpartner übersteigt sicher die Zahl, die gemeinhin üblich ist. War das einfach der offenen Zeit geschuldet – oder welche Gründe hatte es?

Das ist Typfrage, glaub ich, und kenne einige Frauen, die vermutlich noch weitaus promisker leb(t)en. Bestimmt hat es etwas mit der moralischen Offenheit meiner Mutter zu tun, Mütter haben da einen prägenden Einfluss. Und damit, dass ich mich auch diesbezüglich für frei und emanzipiert hielt. Mit dem damaligen Zeitgeist. Aber ich denke doch, vor allem mit meiner Art. Wenn man in vieler Hinsicht neugierig und unternehmungslustig ist, offen und angstfrei und vielleicht ein bisschen draufgängerisch.

Ein wenig wirkte es bei der Lektüre wie der ewige Klassiker auf mich: Frau macht ihr persönliches Glück von der Beziehung zum Mann abhängig. War das so – oder wie war das bei Ihnen?

Das ist ja schrecklich! Denn genau das hat mich immer schon wütend gemacht: Wenn Frauen, vor allem Frauen, weniger Männer, ihr ganzes Leben auf ihr Liebesleben und den One-and-only ausrichten und um ihn kreisen und darin kein Ende finden. Vermutlich habe ich deshalb 50 Jahre gebraucht, um mich wirklich zu binden. Weil ich frei und unabhängig sein wollte und das eigentlich, vor allem beruflich, finanziell, moralisch und körperlich auch fast immer war. Fast zu sehr. Aber eben auch suchend.

Das Leben besteht ja aus vielen Teilen und so wie große Komiker traurige Menschen sein können, sind sachliche Freigeister auch manchmal große Romantikerinnen. Die Bücher über die anderen Teile meines Lebens, den Beruf, das Reisen, Freunde und Familie wären viel dicker. Ich habe mein Glück nicht nur bei Männern gesucht, und Frauen. Sondern in vielen Momenten und auf etlichen Wegen, wo man es finden kann.

Lesen Sie auch: Generation Porno? Warum junge Menschen weniger Sex haben

Zur Zeit schreiben viele Frauen über ihre Identitätsfindung und damit auch über ihre Sexualität. Ist die Zeit jetzt einfach da, sich zu öffnen?

Auf jeden Fall, es gibt eine neue Frauenbewegung und sie wurde auch mit #metoo ausgelöst. Feminismus war ja seit den 90ern und mit der neoliberalen Zeit ziemlich out. Der aktuelle Feminismus dreht sich vor allem in Deutschland stark um Identität und mittlerweile zunehmend wieder um Sexualität und die Ideologien, der auch Körper unterliegen. Gerade sitze ich einer jungen Frau gegenüber, auf deren Laptop steht der tolle Spruch: „Love Sex, Hate Sexism.“ Den hätte man vor ein paar Jahren so und da nicht gesehen und ich hoffe, dass es nicht wieder zu einem Backlash kommt. Man etwas weniger über Identität und etwas mehr über das Materielle spricht. Dazu gehören die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Grundlagen, in denen wir leben. Und eben auch der Körper.