Udenhout. Eine Supermarktkette in den Niederlanden richtet in ihren Filialen Spezialschalter für Menschen ein, die niemanden zum Reden haben.

Im Supermarkt in Udenhout müssen sich die Kunden entscheiden, was sie wollen. Wer schnell wieder raus möchte, stellt sich an einer der Kassen zum Selbstscannen an. Wer aber ein bisschen Zeit mitbringt und gern plaudert, legt die Einkäufe lieber bei Lia Timmermans aufs Band.

Die 59-jährige Kassiererin hat für jede und jeden ein offenes Ohr, fragt nach dem Befinden, lächelt. „Kletskassa“ steht auf Niederländisch über ihrem Stuhl – Plauderkasse. Sie liebe ihren Beruf, sagt Timmermans: „Ich rede gerne und auch viel.“ Damit ist sie prädestiniert für einen Job, den es bislang gar nicht gab.

Timmermans ist in dem südniederländischen Dorf nahe Tilburg so etwas wie die neue Ansprechpartnerin für alle, denen sonst keiner zuhört. „An normalen Kassen seufzen die anderen Kunden in der Schlange genervt, wenn es ihnen nicht schnell genug geht“, berichtet sie gegenüber der Zeitung „AD“.

„Aber an meiner Plauderkasse muss es niemandem peinlich sein, wenn man etwas länger braucht.“ Auf den Warentrennern steht: „Die schönste Kasse, wenn man es nicht so eilig hat.“

Hunderte Plauderkassen geplant

Timmermans arbeitet bei Jumbo, der nach Albert Heijn zweitgrößten Einzelhandelskette des Landes mit 600 Märkten und rund 100.000 Mitarbeitern. Nachdem ein Pilotprojekt in der Provinz Brabant gut ankam, will Jumbo bis zum kommenden Jahr 200 weitere Filialen mit solchen Plauderkassen ausstatten.

Der Einkauf als Gesprächstherapie. Fast 40 Prozent der Niederländer fühlen sich einer Studie der Universität Maastricht zufolge einsam. Die „Kletskassa“ gibt ihnen die Möglichkeit, mal mit jemandem zu quatschen – wie früher im Tante-Emma-Laden.

Der Einkauf als Gesprächstherapie: An der „Kletskassa“ darf geplaudert werden – wie hier in Udenhout.
Der Einkauf als Gesprächstherapie: An der „Kletskassa“ darf geplaudert werden – wie hier in Udenhout. © Jumbo

Annie Kuijpers (72) kommt seit 25 Jahren fast täglich in den Jumbo-Markt in Udenhout und ist mächtig froh um den neuen Treffpunkt im Dorf. Kassiererinnen wie Lia Timmermans sind für sie vertraute Gesichter, mit denen sie sich gern austauscht. „Man baut eine Art Vertrauensverhältnis auf“, so Kuijpers gegenüber „AD“.

Franz Müntefering lobt Plauderkassen

Könnten deutsche Supermärkte das Konzept übernehmen? Einer, der sich mit Einsamkeit im Alter auskennt, ist Franz Müntefering. Der SPD-Politiker und ehemalige Vizekanzler, mittlerweile 81 Jahre alt, setzt sich seit Jahren für die Belange älterer Menschen ein, etwa als Vorsitzender des Dachverbands der Seniorenorganisationen (Bagso).

Er mahnt: „Die Einsamkeit wächst. Die Familien werden immer kleiner, es gibt immer mehr Einpersonenhaushalte.“

Müntefering lebt mit seiner Frau Michelle (41) – sie ist Staatssekretärin im Auswärtigen Amt – in deren Heimatstadt Herne im Ruhrgebiet. Seit er vor zwölf Jahren den SPD-Parteivorsitz niederlegte, hat er mehr Zeit. Der gebürtige Sauerländer erzählt, dass er beim Einkaufen häufig Grüppchen zwischen den Regalen beobachte, die sich dort offenbar zum Schwatz träfen.

Auch falle ihm auf, dass immer mehr Märkte kleine Cafés eröffnen. „Daran sieht man, dass viele den Laden als Stück ihres Alltags begreifen.“ Ob eine Plauderkasse funktioniere, wisse er nicht. Trotzdem lobt er die niederländische Initiative: „Wer sich Zeit nimmt, macht sich verdient um seine Mitmenschen.“

Plauderkassen: Deutscher Einzelhandel ist skeptisch

Der deutsche Handel gibt sich zurückhaltend. Edeka etwa schreibt auf Anfrage, die Märkte seien „gerade in ländlichen Regionen ein wichtiger Ort zum Einkauf und zur Begegnung“. Eine bundesweite Einführung von Plauderkassen sei jedoch nicht geplant.

Kaufland verfolgt das Experiment nach Auskunft eines Unternehmenssprechers „interessiert“. „Tatsächlich zeigen aktuelle Befragungen jedoch, dass die Mehrzahl der Kunden bei Kaufland eine zwar freundliche, aber dennoch zügige Abwicklung an der Kasse bevorzugt.“ Lesen Sie hier:Charité: So haben Heimbewohner in der Pandemie gelitten

Franz Müntefering glaubt, dass Einsamkeit ein Problem ist, das Betroffene selbst angehen müssen. „Man muss den Leuten sagen: Sorgt dafür, dass ihr euch rechtzeitig bindet.“ Er verweist auf Erzählcafés und Seniorenklubs, um mal unter Leute zu kommen. Es sei wichtig, den Tag zu strukturieren, wenn man im Ruhestand sei – „damit die Leute nicht immer alleiner werden“.

Wer das schaffe, brauche keine Plauderkasse.