Montrouis. Fast eine Million Menschen brauchen in Haiti dringend Hilfe. Es kommt aber wenig bei ihnen an. Eine Organisation leistet Unterstützung.

Auf dem Hof von Osapo packen Helfer Lebensmittel zusammen, Reis, Nudeln, Milchpulver, Bohnen, Zucker. Doktor Jean Gardy Marius und seine Leute von der kleinen haitianischen Hilfsorganisation wollen die Pakete in den kommenden Tagen von Montrouis in den Südwesten des Landes transportieren, dorthin, wo Hunderttausende Menschen so dringend Unterstützung benötigen – aber noch ist nicht klar, wann die Polizei wieder einen Konvoi eskortieren kann. „Die Logistik ist eine große Herausforderung“, sagt der Doktor in die Kamera hinein.

Haiti vor drei Wochen. Am Samstagmorgen um 8.29 Uhr erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7,2 den Südwesten des Karibikstaates, wieder trifft es die Menschen ohne jede Vorwarnung. Gebäude brechen wie Kartenhäuser zusammen, über 3000 Menschen sterben, mehr als 13.000 werden verletzt, Hunderttausende werden obdachlos.

Haiti: Katastrophe trifft ein geschundenes Land

Die Katastrophe trifft ein geschundenes Land, eines, das wirtschaftlich und politisch am Boden liegt. Es ist, als wäre Haiti verflucht. Vor elf Jahren starben bei einem verheerenden Erdbeben mindestens 200.000 Menschen, vermutlich deutlich mehr.

2012 richtete der Hurrikan Sandy erhebliche Verwüstungen an, dann 2016 der Hurrikan Matthew. Jetzt also wieder ein Erdbeben. „Ich komme selbst aus dem Süden. Das Haus meiner Mutter ist kollabiert, aber Gott sei Dank haben sie und meine Tochter überlebt“, erzählt Doktor Marius.

In vielen Dörfern ist noch keine Hilfe angekommen

Die Katastrophe hat Haiti in einer Zeit getroffen, in der politisches Chaos herrscht, Mitte Juli wurde Präsident Jovenel Moïse ermordet. „Wir haben keine existierende Regierung“, sagt der Doktor lakonisch. Noch dazu waren die Augen der Welt auf die Geschehnisse in Afghanistan gerichtet, als in Haiti die Erde bebte. Ohne öffentliche Wahrnehmung fließen Spendengelder spärlich.

Jean Gardy Marius (r.) organisiert in Haiti die Selbsthilfe vor Ort.
Jean Gardy Marius (r.) organisiert in Haiti die Selbsthilfe vor Ort. © privat/action medeor | privat/action medeor

Was an Hilfe ankommt, konzen­triert sich derzeit zu sehr in der Hafenstadt Les Cayes und anderen größeren Städten in der betroffenen Region, berichtet der Doktor. „Unglücklicherweise ist in vielen Dörfern noch gar keine Unterstützung angekommen.“ Dabei sei dort Hilfe dringend notwendig. Manche Orte seien bei dem Beben zu 90 Prozent zerstört worden.

Insgesamt, schätzt Marius, seien bei der Katastrophe mindestens 60.000 Häuser komplett dem Erdboden gleichgemacht worden, mindestens 75.000 weitere seien schwer beschädigt worden. Fast eine Million Menschen seien in Not, sie bräuchten frisches Wasser, Nahrung, Medikamente, Zelte. Viele der Brunnen, aus denen Dorfbewohner früher Wasser pumpten, sind zerstört, etliche Krankenstationen ebenfalls.

Zusammenbruch der staatlichen Ordnung erschwert die Hilfe

Der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung erschwert die Hilfe. Der Zivilschutz ist nicht arbeitsfähig. Bewaffnete Banden nutzen das Sicherheitsvakuum aus, die Fahrt zwischen der 200 Kilometer östlich gelegenen haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und Les Cayes ist riskant.

„Wir müssen Konvois zusammenstellen und die Polizei bitten, sie zu eskortieren. Es ist eine sehr komplizierte Situation“, sagt der Doktor. Aber er und seine Leute geben nicht auf und organisieren die Selbsthilfe. Sie lassen sich von den Dorfvorstehern und Bürgermeistern Listen von Bedürftigen erstellen, koordinieren Hilfskonvois mit anderen Organisationen und in direktem Gespräch mit der Polizei. „Es ist auch für uns riskant, dorthin zu fahren, aber wir müssen unseren Leuten helfen.“ „Haiti“, sagt der Doktor, „ist eines der verletzlichsten Länder der Welt. In den vergangenen elf Jahren sind so viele Menschen bei Katastrophen gestorben.“

Die internationale Gemeinschaft habe in dieser Zeit zehn Milliarden Dollar in das Land gepumpt, aber das habe nicht dazu beigetragen, Haiti sicherer für die Menschen zu machen. „Man sollte aufhören, mit Politikern zusammenzuarbeiten, die nur sich selbst im Blick haben und nicht die Bevölkerung“, schimpft er, und seine Augen blitzen hinter der Brille wütend. Jetzt gelte es, schnelle Hilfe zu leisten. „Die Menschen erleben gerade einen sehr kritischen Moment.“ Es ist der Beginn der Hurrikan-Saison in der Karibik.