Berlin. Bislang war die Inzidenz das Kriterium schlechthin zur Beurteilung der Corona-Lage. Jetzt plant die Politik eine neue Weichenstellung.

  • Lange war die Inzidenz das wichtigste Kriterium zur Bewertung der Corona-Lage
  • Der Wert von 50 galt dabei als besonders relevant
  • In Zukunft will die Bundesregierung nicht mehr an dem Wert festhalten – doch wie wird die Situation dann bewertet?

Die Inzidenz war bisher die zentrale Richtgröße, um in der Corona-Pandemie den Ernst der Lage zu bewerten. Die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche hat lange den Ausschlag gegeben für Lockdowns, Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen. Fiel die Inzidenz wie zuletzt im Juni dagegen stark ab, wurden Maßnahmen wieder gelockert.

Nun will die Politik eine neue Weichenstellung vornehmen: Die Bundesregierung will den 50er-Inzidenzwert als zentrales Kriterium für Pandemie-Schutzmaßnahmen aus dem Infektionsschutzgesetz streichen.

Bislang schreibt das Gesetz vor, dass bei Überschreitung der Marke von über 50 Neuinfektionen umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind. Künftig soll stattdessen unter anderem die Belastung in den Krankenhäusern als ein neuer Maßstab im Gesetz eingeführt werden. Zuletzt waren es rund 1,3 solcher Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche, die in klinische Behandlung mussten. Auf dem Höhepunkt der Pandemie in Deutschland lag dieser Wert bei über zehn.

Warum verliert die Inzidenz an Aussagekraft?

Wenn mehr Menschen gegen Covid-19 geimpft sind, sinkt für sie das Risiko einer schweren Erkrankung nach einer Ansteckung. Damit ist eine Infektion für eine wachsende Gruppe von Menschen nicht mehr so gefährlich. Aussagekräftiger als Indikator für die Gefahrenbewertung in der Pandemie ist dann, wie viele Angesteckte im Krankenhaus behandelt werden müssen. Denn dies bedeutet, dass die Belastung für das Gesundheitssystem wieder zunimmt.

Aktuell sind besonders unter Jüngeren und Kindern die Infektionszahlen überdurchschnittlich hoch. Allerdings erkranken sie seltener schwer. Ältere Menschen und schwer Vorerkrankte, die in früheren Infektionswellen besonders gefährdete waren, sind hingegen in der Mehrzahl geimpft. Selbst wenn sie sich trotz Impfung erneut anstecken sollten, ist für sie ein schwerer Verlauf mit Einlieferung ins Krankenhaus weniger wahrscheinlich.

Welche Bedeutung hat die Inzidenz in Zukunft noch?

Als Warnleuchte dürfte sei nach wie vor eine Rolle spielen, aber eben nicht mehr die zentrale. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte am Montagabend, es sei nicht so, dass der "Inzidenzwert gar kein Maßstab mehr ist". Aber es habe einen "deutlichen Impffortschritt" gegeben und nun werde auch die Zahl der ins Krankenhaus Eingelieferten berücksichtigt. Eine konkrete Zahl, ab wie vielen Einlieferungen von Corona-Patienten in die Kliniken neue Beschränkungen gelten könnten, nannte der Minister jedoch nicht.

Spahn sagte: "Was klar ist: Die 50er Inzidenz, wie sie aktuell im Gesetz steht, hat ausgedient." Nach den Impffortschritten könne man jetzt stärker auf die Krankenhausbelastung abheben. "Aber auch diese Frage hängt ja mit der Inzidenz zusammen. Umso mehr sich infizieren, desto mehr werden natürlich auch weiterhin in den Kliniken behandelt werden müssen", sagte Spahn.

Was bedeutet der Plan für die Corona-Beschränkungen?

Dort spielt die Inzidenz weiterhin eine Rolle. Seit diesem Montag greift bundesweit ab einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen die "3G-Regel" für den Zugang zu bestimmten Innenräumen: In Restaurants, Hotels oder Fitnessstudios etwa kann nur, wer geimpft, genesen oder frisch negativ getestet ist. Dies gilt auch für Besuche in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen sowie für die Nutzung körpernaher Dienstleistungen.

Nur für Regionen und Landkreise mit geringen Infektionszahlen kann die 3G-Regel ausgesetzt werden. So hatten es Bund und Länder bei ihren Corona-Beratungen am 10. August beschlossen. Bundesweit liegt die Inzidenz aktuell bei 58,0.

Wie ist die Meinung von Experten?

Unterschiedlich. Intensivmediziner unterstützen den Plan. "Wir befürworten den Beschluss von Gesundheitsminister Spahn", sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), am Dienstag im ZDF-"Morgenmagazin". Marx verwies dabei unter anderem auch auf die steigenden Impfquoten. Die Inzidenz werde trotzdem weiterhin beachtet und bleibe für die Entwicklung im Gesundheitswesen "relevant". Denn: Es gebe generell einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Neuinfektionen und der Krankenhausbelegung. Derzeit stelle diese aber "überhaupt kein Problem" dar. Die Lage müsse jedoch täglich beobachtet werden, sagte Marx.

Auch die Hausärzte befürworten den Schritt. Es gehe darum, die Belastung des Gesundheitswesens abzubilden. "Diese ist im Moment moderat, und sie wird vor allem durch Personen verursacht, die nicht geimpft sind", sagte der Vorsitzende des Hausärzteverbands, Ulrich Weigeldt.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist derweil gegen eine Abkehr von der Inzidenz als wichtigen Corona-Wert. Die geplante Neuordnung sende "ein falsches Signal", als wenn die Inzidenz nun überhaupt nicht mehr wichtig wäre und man nur noch auf die Zahl der Krankenhauseinweisungen schauen müsste, sagte Lauterbach. "Das halte ich für falsch, weil auch viele derjenigen, die erkranken und nicht ins Krankenhaus müssen, schwer erkranken und langfristige Schäden davontragen."

Deutschland laut RKI am Beginn der vierten Corona-Welle

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    Kann es erneut zu einem Lockdown kommen?

    Die einhellige Meinung von Politik und Wirtschaft ist, dass es nicht wieder dazu kommen darf. Spahn hat jetzt einen weiteren Lockdown zumindest für Geimpfte und Genesene ausgeschlossen. Auf die Frage, ob es im Herbst einen Lockdown geben wird: "Für Geimpfte und Genesene sicher nicht" – es sei denn, es entwickele sich eine neue Virus-Variante, gegen die die derzeitigen Corona-Impfstoffe nicht helfen. Dies sei aber im Moment nicht zu sehen. "Mit der Delta-Variante kommen wir sicher durch Herbst und Winter, wenn sich viele impfen lassen und wir das 3G-Prinzip im Innenraum haben", sagte Spahn am Montag in den ARD-Tagesthemen.

    Sollte sich die Lage verschärfen, hält Spahn auch die so genannte 2G-Regel für einen "vernünftigen Weg". Diese strengere Regel besagt, dass Geimpfte und Genesene gewisse Vorteile erhalten können, die Ungeimpfte auch bei Vorlage eines aktuellen negativen Corona-Tests nicht haben. Spahn betonte: "Geimpfte und Genese sollen es durchaus leichter haben." CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat Armin Laschet hatte am Vortag betont, er werde mit ihm keinen erneuten Lockdown in Deutschland mehr geben.