Hamburg. Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano ist am Samstag verstorben. Unsere Autorin traf sie 2011 zu einem Gespräch über ihr Leben.

Die Musik hat Esther Bejarano ihr Leben lang begleitet. Noch im hohen Alter trat sie als Sängerin auf. Während ihrer Internierung im Vernichtungslager von Auschwitz spielte sie im Mädchenorchester Akkordeon. Am Samstagmorgen ist die Holocaust-Überlebende nun mit 96 Jahren in Hamburg verstorben.

Anlässlich ihre Todes veröffentlichen wir an dieser Stelle unser Porträt aus dem Hamburger Abendblatt über die Jüdin. Die Autorin wurde dafür mit dem Marion-Dönhoff-Förderpreis ausgezeichnet worden. Der Artikel war 2010 unter dem Titel „Musik gegen den Tod“ erschienen. Lesen Sie dazu: Auschwitz-Überlebende: Esther Bejarano ist gestorben

Sie möchte einige Takte erzählen. Aus ihrem Leben, das einer Symphonie ihres Lieblingskomponisten Beethoven ähnelt. Es ist Esther Bejaranos ganz persönliche „Schicksalssymphonie“ in vier Sätzen.

Sie beginnt in Dur, mit einer unbeschwerten Kindheit im Saarland. Sie schlägt dann aber um in Moll, im Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau. Jetzt, wenige Tage vor dem 65. Jahrestag der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, berichtet die 85-Jährige, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz, von ihrem Leitmotiv: dem Triumph des Schicksals über das Leiden. „Wissen Sie“, sagt die zierliche weißhaarige Frau mit fester Stimme, während sie in ihrem Wohnzimmer in Groß Borstel sitzt und auf ihr Klavier blickt, „die Musik hat mir das Leben gerettet.“

Esther Bejarano: Schon als Kleinkind sang sie jiddische Lieder

Erster Satz: Der Klang der Kindheit. „Mein Elternhaus in Saarbrücken war von Musik erfüllt“, sagt Esther Bejarano. Irgendjemand habe immer auf dem Klavier geklimpert. Ihr Vater, der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde. Ihre Mutter, ihr großer Bruder Gerdi, die beiden älteren Schwestern Tosca und Ruth. Oder eben sie selbst, das quirlige Nesthäkchen mit dem Spitznamen „Krümel“.

Schon als Kleinkind sang sie jiddische Lieder, obwohl sie die Sprache gar nicht verstand. Als Sechsjährige begann sie mit dem Klavierspiel. „Es war schnell klar, dass ich Talent habe.“ Die Klavierstunden seien schön gewesen – insbesondere, als es draußen unaufhaltsam unschön wurde. Als das Saarland „dem Reich“ angegliedert wurde. Als der Antisemitismus wuchs und die Schulfreundinnen nicht mehr mit der kleinen Esther spielen wollten.

Nach der Reichspogromnacht zog die Familie nach Berlin

„Das hat mich tief getroffen“, sagt Esther Bejarano leise. „Ich war doch nicht plötzlich anders als vorher.“ Die Gemeinde des Vaters schrumpfte von Tag zu Tag, wer konnte, verließ Deutschland. Esthers Familie zog zunächst nach Ulm, wo der Vater Direktor einer jüdischen Schule wurde. Doch nach der Reichspogromnacht, in der die Nationalsozialisten jüdische Geschäfte in Schutt und Asche legten und Synagogen anzündeten, siedelte die Familie nach Berlin um.

Die Eltern schickten die 16-jährige Esther in ein sogenanntes Palästina-Vorbereitungslager. Sie sollte weg aus Deutschland. Zu spät. „Kurz darauf ging das Grauen los“, sagt Esther Bejarano und nimmt ein Bonbon, weil ihre Stimme zittert. „Hätte ich als Kind nicht so viel Liebe und durch die Musik so viel Kraft aufgesogen, ich hätte die nächsten Jahre nicht überlebt.“

So erinnerte sich Bejarano an Auschwitz

Zweiter Satz: Die Todesmärsche von Auschwitz. 1941 machten die Nationalsozialisten sämtliche Palästina-Vorbereitungslager dicht. Esther wurde in ein Arbeitslager bei Fürstenwalde gesteckt, musste in einer Gärtnerei schuften. „Dabei hatte ich noch Glück“, sagt sie. Das Ehepaar, dem die Gärtnerei gehörte, habe sie immer gut behandelt. Die Kunden nicht. „Du Drecksjude!“, brüllte ihr mancher hinterher. „Wann haut ihr endlich ab“, schrie ein anderer.

Am 20. April 1943 wurde die 18-jährige Esther – ihre Eltern und eine Schwester waren zu diesem Zeitpunkt wohl bereits ermordet – von einem Berliner Sammellager aus mit mehr als 1000 anderen Juden in fensterlose Viehwaggons gepfercht. Eng aneinander gepresst hätten die mehr als 60 Menschen in dem Waggon auf dem Boden gesessen, erinnert sich Esther Bejarano.

Zwei Tage und zwei Nächte lang ratterte der Zug über Land, die alten Menschen im Zug starben „wie die Fliegen“, sagt Esther Bejarano, und ihre Stimme bricht. Wohin die Reise ging, habe niemand gewusst. Nur geahnt. „Wir hatten doch alle schon gehört, dass es Konzentrationslager geben soll.“

Esther Bejarano sitzt in einem Rollstuhl.
Esther Bejarano sitzt in einem Rollstuhl. © dpa

Der Zug hielt in Auschwitz, Gestapo-Offiziere in Zivil standen am Gleis. „Die waren so freundlich“, sagt Esther Bejarano. So grausam kann es hier also nicht sein, habe sie gedacht. Bis ihr die riesigen Kleiderberge aufgefallen sind. Bis sie sich nackt ausziehen musste, ihr die Haare geschoren wurden. Bis ihr die Nummer 41948 auf den Oberarm tätowiert wurde.

„Mein Gott“, schoss es ihr in dieser Sekunde durch den Kopf, „wo sind denn bloß die 41947 anderen Menschen hin?“ Esther wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, musste auf einem Feld schwere Steine schleppen. Tagein, tagaus. Von einer Seite zur anderen. Und wieder zurück. „Reine Schikane“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Gerade einmal 1,48 Meter sei sie groß gewesen, dazu spindeldürr. Und völlig entkräftet. Weil sie nachts in der eiskalten Baracke nie ein Auge zumachen konnte. Weil die Gedanken an die, die hundert Meter weiter in die Gaskammern getrieben wurden, sie wach hielten.

Orchester: Bejarano meldete sich für das Akkordeon – obwohl sie es nicht spielte

Eines Abends wurden Frauen für ein „Mädchenorchester“ gesucht. Es fehle noch jemand, der Akkordeon spielt, hieß es. Esther meldete sich, obwohl sie dieses Instrument nie zuvor in der Hand hatte. „Ich wusste, dass es zur Hälfte aussieht wie ein Klavier.“ Den Schlager „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“ musste Esther vorspielen – sie bestand die Prüfung, wurde eine von 42 Frauen in dem Orchester. Sie spielten. Meistens Märsche.

Morgens, wenn die Kolonnen zur Arbeit ausrückten. Abends, wenn sie zurückstolperten. Und immer, wenn neue Transporte die „jüdische Rampe“ erreichten. „Die Menschen winkten uns zu. Sie dachten sicher, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein“, sagt Esther Bejarano, und ihre Augen werden wässrig. „Das war die perfide Taktik der Nazis“, sagt sie lauter. „Sie wollten, dass all die Menschen ohne Kampf in den Tod gehen. Wir aber wussten, dass sie in die Gaskammer gingen.“ Mit Tränen in den Augen habe sie gespielt. Note für Note. „Wir konnten uns doch nicht wehren. Hinter uns standen die SS-Schergen mit ihren Gewehren.“

Holocaust-Überlebende Bejarano: „Am 8. Mai 1945 wurde ich zum zweiten Mal geboren“

Dritter Satz: Die Melodie der Freiheit. Sieben Monate später sollten Häftlinge mit teils „arischem“ Blut Auschwitz verlassen dürfen. „Ich wusste: Das könnte meine Chance sein, hier lebend rauszukommen.“ Esther, die wegen ihrer christlichen Großmutter als „Vierteljüdin“ galt, wurde KZ-Arzt Dr. Mengele vorgeführt. „Ich habe am ganzen Körper gezittert. Ich dachte, der schickt mich doch gleich ins Gas.“ Doch er schickte sie ins KZ Ravensbrück, wo Esther zur Arbeit für die Rüstungsproduktion gezwungen wurde.

Beim sogenannten „Todesmarsch“ nach der Auflösung des Lagers gelang Esther Bejarano die Flucht. Irgendwo, in dem mecklenburgischen Dörfchen Lübsz, begegnete sie ihren Befreiern, amerikanischen und sowjetischen Soldaten. Gemeinsam tanzten sie um ein brennendes Hitlerbild. „Am 8. Mai 1945 wurde ich zum zweiten Mal geboren.“

Nach der Befreiung wanderte Bejarano aus – 1960 kehrte sie nach Deutschland zurück

Kurz danach wanderte die damals 20-Jährige nach Palästina aus. Sie lebte in der Gegenwart, verdrängte die Vergangenheit. Zuflucht fand sie in der Musik, sie ließ sich zur Koloratursopranistin ausbilden. Doch das Klima im Nahen Osten bekam ihr nicht. Gesundheitlich nicht, und politisch schon gar nicht. Ihr Ehemann Nissim, mit dem sie zwei Kinder hat, konnte als Pazifist den Kriegsdienst nicht verweigern.

Im August 1960 entschloss sich die Familie, zurück nach Deutschland zu ziehen. „Das wirkt außergewöhnlich“, sagt Esther Bejarano. Doch sie wollte ihrer ersten Heimat noch einmal eine Chance geben. „Wir haben uns Hamburg ausgesucht. Weil ich gehört hatte, dass die Stadt schön sein soll“, sagt sie und schiebt hinterher: „Und weil ich an diesen Ort in Deutschland keine schreckliche Erinnerung hatte.“

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Musik und Auschwitz-Komitee: So kämpfte Bejarano gegen das Vergessen

Vierter Satz: Die Beats gegen das Vergessen. Esther Bejarano eröffnete ein kleines Modegeschäft am Hellkamp. Politisch war sie nicht engagiert, sprach selten über ihre Zeit in Auschwitz. „Ich wollte das nicht mehr aufrühren“, sagt sie.

Bis eines Tages eine Gruppe Neonazis einen Stand vor ihrem Laden in Eimsbüttel aufbaute. Sie sprach die Männer an, erzählte von Auschwitz – und erntete Hohn und Spott. „Wieso erzählen Sie, dass Sie in Auschwitz waren?“, brüllten die Männer sie an. „Dieses Lager ist eine Lüge.“ Da sei in ihr alles wieder hochgekommen. „Die Faschisten sind zurück, das darf ich nicht zulassen“, habe sie sich gedacht.

Sie suchte Kontakt zu anderen Auschwitz-Überlebenden, engagierte sich als Vorsitzende des deutschen „Auschwitz-Komitees“. Bis heute besucht die 85-Jährige Schulen in ganz Deutschland, sie erzählt ihre Geschichte. Und sie musiziert. Gegen rechts, gegen Antisemitismus, gegen das Vergessen.

Rap gegen Rechts: Esther Bejarano wollte immer auch die Jugend erreichen

Mit ihren beiden Kindern Edna und Joram spielt sie in der Gruppe „Coincidence“, stand schon bei der Aktion „Künstler für den Frieden“ mit Künstlern wie Harry Belafonte und Konstantin Wecker auf der Bühne. „Ich bin sehr gefragt“, sagt sie und lacht. Jede Woche gebe sie irgendwo in Deutschland ein Konzert.

Im Januar hat Esther Bejarano im Hamburger „Polittbüro“ Ausschnitte aus dem neuen Dokumentarfilm „Per La Vita“ vorgestellt, der eine ganz besondere Zusammenarbeit zeigt. Denn gerade erst hat Esther Bejarano gemeinsam mit den Kölner Rappern von „Microphone Mafia“ eine CD aufgenommen. „Fragen Sie mich nicht, warum die sich so komisch nennen“, sagt sie und lächelt. „Ist aber auch egal. Mir ist nur wichtig, dass ich die Jugend erreiche.“ Damit es nie wieder ein zweites Auschwitz gibt. Und damit Esther Bejaranos „Schicksalssymphonie“ in hohen Tönen ausklingt.

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