Berlin. Die 25-Jährige Nadia Murad bekommt den Friedensnobelpreis – für ihren Beitrag gegen sexuelle Gewalt im Krieg. Was treibt sie dabei an?

Sie kämpft gegen sexuelle Gewalt als Kriegswaffe und wird für ihr Engagement nun ausgezeichnet: Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad (25) erhält den 99. Friedensnobelpreis, ebenso wie Denis Mukwege (63). Anlässlich der Auszeichnung veröffentlichen wir an dieser Stelle unser Portrait aus dem Dezember 2017 über die Jesidin:

Ihre Stimme ist monoton und entschieden. Das Gespräch strengt sie an. Wieder muss sie erzählen, was ihr passiert ist. Von den drei Monaten im Jahr 2014 als Sklavin, Vergewaltigungsopfer, Flüchtling und Waise.

Doch ist sie heute noch das Opfer von damals? Fragt man die bekannte Anwältin für Menschenrechte, Amal Clooney, so beschreibt sie die erst 24-jährige Nadia Murad wie folgt: „Sie ist eine Überlebende. Anführerin der Jesiden. Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen. Und nun auch noch Autorin.“ Und in dieser Wandlung liegt ihre Kraft.

Nadia Murad wirkt zerbrechlich, aber ihre Worte sind fordernd und mutig. Sie trägt ihr Haar nicht mehr lang, sondern auf Kinnlänge, helle Strähnen durchziehen das natürliche Schwarz. Sie kleidet sich modern. Alles Dörfliche, Folkloristische hat sie optisch hinter sich gelassen. Doch ihr scheuer Blick, die Müdigkeit, mit der sie von ihrer IS-Gefangenschaft im Irak erzählt, deuten einen tiefen Abgrund an.

„Möchte, dass meine Geschichte bleibt“

In diesem Abgrund liegen ihre Erlebnisse. Und dort sollen sie auch bleiben. Für alle, die es dennoch wissen wollen, wissen sollen, hat sie ein Buch geschrieben. „Ich bin eure Stimme“ lautet der Titel und richtet sich vor allem an zwei Gruppen. Einmal an die jesidischen Frauen, von denen 6000 seit 2014 von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ verschleppt wurden. Ihre Stimme möchte sie sein. Andererseits wendet sie sich auch an ihre Peiniger, an die IS-Terroristen, die sich nicht sicher fühlen sollen. All das, was mit ihr und anderen Frauen gemacht wurde, hält sie im Buch fest. Ein Dokument des Grauens und zugleich eine Anklageschrift.

„Ich möchte meine Geschichte zwar nicht immer wieder erzählen, aber ich möchte, dass sie bleibt.“ Niemand soll vergessen, was die IS-Leute ihr angetan haben. Und sie sollen bestraft werden. „Sie sollen zur Verantwortung gezogen werden. Ob sie nun die Todesstrafe oder das Gefängnis erwartet, das sollen Gerichte entscheiden.“

Soviel Geld gibt es für den Nobelpreis – und sechs weitere Fakten

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    Bis zum 3. August 2014 lebte Nadia Murad in dem Dorf Kocho, nahe der Stadt Sindschar. Sie ging noch zur Schule und träumte davon, vielleicht in einem Jahr nach Mossul zum Studieren zu gehen oder eine Ausbildung zur Kosmetikerin zu machen. Doch an diesem Tag überfielen Terroristen des IS ihr Dorf, schleppten ihre Mutter und ihre Brüder weg. Die jungen Frauen und die Kinder sperrten sie in die Dorfschule. Sie erfährt später, dass ihre sechs Brüder und ihre Mutter von den Extremisten getötet wurden.

    Für IS-Kämpfer sind Jesiden Ungläubige

    Dann transportierten sie Nadia Murad mit den anderen Frauen ab. Die damals 21-Jährige war noch völlig unberührt. Schon auf der Fahrt in ein Zwischenlager für die Frauen begannen die IS-Leute, sie zu begrapschen. Für den IS sind die Frauen nun „sabayas“, Sklavinnen. In Sindschar einzufallen und Mädchen zu verschleppen ist eine Vernichtungsstrategie der IS-Terroristen. Amal Clooney berichtet in ihrem Vorwort zum Buch von Nadia Murad, dass der „Islamische Staat“ eine Art Leitfaden mit dem Titel „Fragen und Antworten zur Gefangennahme und Versklavung“ veröffentlicht hat.

    Eine Frage lautet: Ist es erlaubt, mit einer Sklavin, die die Pubertät noch nicht erreicht hat, Geschlechtsverkehr zu haben? Die Antwort ist verkürzt: Ja. Auch die Frage „Ist es erlaubt, eine weibliche Gefangene zu verkaufen?“ wird im IS-Leitfaden bejaht. Für die IS-Kämpfer sind die Jesiden Ungläubige, weil sie sich in ihrem Glauben auf keine religiöse Schrift beziehen – so rechtfertigen sie ihre Taten gegen die Gemeinschaft, die im Norden Iraks, in Nordsyrien und der südöstlichen Türkei lebt.

    Nach ihrer Entführung wird Nadia Murad verkauft. Sie wird in die Gegend von Mossul verschleppt. Sie wird gezwungen zu konvertieren, Zigaretten werden auf ihr ausgedrückt, sie wird vor einem IS-Gericht verheiratet. Was dann passiert, ist die Entmenschlichung der jungen Frau. Zuerst vergewaltigt ihr „neuer Mann“ sie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dann, als sie versucht zu fliehen und erwischt wird, erlaubt er seinen drei Wächtern über sie herzufallen. Einer legt, bevor er sie brutal vergewaltigt, vorsichtig seine Brille ab. Ihr gegenüber zeigt er keine Milde. Dann wird sie weiterverkauft, schon in der ersten Nacht wird sie von ihrem neuen Besitzer vergewaltigt, danach schickt er seinen Freund zu ihr.

    Berühmte Friedensnobelpreisträger

    Der Friedensnobelpreis ist der einzige, der nicht in Stockholm, sondern in Norwegens Hauptstadt Oslo verliehen wird. 2009 bekam ihn der damalige US-Präsident Barack Obama. Er erhielt ihn gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit. Eine höchst umstrittene Entscheidung, auch wegen des massiven internationalen Militärengagements der USA. Seit 1901 hat die Jury einige weltberühmte Preisträger gekürt – wir zeigen sie.
    Der Friedensnobelpreis ist der einzige, der nicht in Stockholm, sondern in Norwegens Hauptstadt Oslo verliehen wird. 2009 bekam ihn der damalige US-Präsident Barack Obama. Er erhielt ihn gleich im ersten Jahr seiner Amtszeit. Eine höchst umstrittene Entscheidung, auch wegen des massiven internationalen Militärengagements der USA. Seit 1901 hat die Jury einige weltberühmte Preisträger gekürt – wir zeigen sie. © imago | JOHN GRESS
    Obama wurde 2009 „für seinen außergewöhnlichen Einsatz zur Stärkung der internationalen Diplomatie und der Kooperation zwischen Völkern“ geehrt.
    Obama wurde 2009 „für seinen außergewöhnlichen Einsatz zur Stärkung der internationalen Diplomatie und der Kooperation zwischen Völkern“ geehrt. © imago | imago stock&people
    Der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. (1929 – 1968) erhielt den Preis 1964 im Jahr nach seiner berühmten „I have a dream“-Rede (engl. „Ich habe einen Traum“), die er anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 in Washington, D.C. vor dem Lincoln Memorial hielt.
    Der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. (1929 – 1968) erhielt den Preis 1964 im Jahr nach seiner berühmten „I have a dream“-Rede (engl. „Ich habe einen Traum“), die er anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit am 28. August 1963 in Washington, D.C. vor dem Lincoln Memorial hielt. © imago | United Archives
    Vier Jahre später wurde er ermordet.
    Vier Jahre später wurde er ermordet. © imago | imago stock&people
    Mutter Teresa (1910 – 1997) wurde 2016 von Papst Franziskus heilig gesprochen.
    Mutter Teresa (1910 – 1997) wurde 2016 von Papst Franziskus heilig gesprochen. © REUTERS | Paolo Cocco
    Die Helferin der Armen und Kranken bekam den Nobelpreis 1979.
    Die Helferin der Armen und Kranken bekam den Nobelpreis 1979. © reuters | Scanfoto Scanfoto
    Der südafrikanische Nationalheld Nelson Mandela (1918 – 2013), der mit seinem Kampf für die Freiheit die Apartheid beendete, bekam den Nobelpreis noch vor seiner Zeit als erster schwarzer Präsident des Landes.
    Der südafrikanische Nationalheld Nelson Mandela (1918 – 2013), der mit seinem Kampf für die Freiheit die Apartheid beendete, bekam den Nobelpreis noch vor seiner Zeit als erster schwarzer Präsident des Landes. © Getty Images | Sion Touhig
    Er teilte sich die Auszeichnung 1993 mit dem weißen Präsidenten Südafrikas, Fredrik Willem de Klerk.
    Er teilte sich die Auszeichnung 1993 mit dem weißen Präsidenten Südafrikas, Fredrik Willem de Klerk. © © epd-bild / Keystone | Keystone
    Der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt (1913 – 1992) ist der wohl bekannteste deutsche Träger des Friedensnobelpreises.
    Der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt (1913 – 1992) ist der wohl bekannteste deutsche Träger des Friedensnobelpreises. © Getty Images | Terry Fincher
    Er wurde 1971 für seine Ostpolitik geehrt, die zur Entspannung im Kalten Krieg beitrug.
    Er wurde 1971 für seine Ostpolitik geehrt, die zur Entspannung im Kalten Krieg beitrug. © imago | Sven Simon
    Der Dalai Lama, das im indischen Exil lebende geistliche und politische Oberhaupt der Tibeter, bekam 1989 den Friedensnobelpreis verliehen.
    Der Dalai Lama, das im indischen Exil lebende geistliche und politische Oberhaupt der Tibeter, bekam 1989 den Friedensnobelpreis verliehen. © Reuters | REUTERS / JESSICA RINALDI
    „Seine Vorschläge sind wohl der einzige realistische Weg für das tibetanische Volk, die eigene Freiheit, Kultur und Identität zurückzugewinnen“, so der Vorsitzende des norwegischen Nobel-Komitees, Egil Aarvik. Das Foto zeigt den buddhistischen Mönch während einer Rede, nachdem er die Auszeichnung in Empfang genommen hatte.
    „Seine Vorschläge sind wohl der einzige realistische Weg für das tibetanische Volk, die eigene Freiheit, Kultur und Identität zurückzugewinnen“, so der Vorsitzende des norwegischen Nobel-Komitees, Egil Aarvik. Das Foto zeigt den buddhistischen Mönch während einer Rede, nachdem er die Auszeichnung in Empfang genommen hatte. © imago | imago stock&people
    Das damalige sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow wurde 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges, mit dem Nobelpreis geehrt.
    Das damalige sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow wurde 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges, mit dem Nobelpreis geehrt. © imago | imago stock&people
    Der Gründer der Hilfsorganisation Das Rote Kreuz, Jean Henri Dunant (1828 – 1910), bekam 1901 den allerersten Friedensnobelpreis. Seitdem wurde Das Rote Kreuz, noch dreimal ausgezeichnet. Niemand erhielt den Friedensnobelpreis häufiger.
    Der Gründer der Hilfsorganisation Das Rote Kreuz, Jean Henri Dunant (1828 – 1910), bekam 1901 den allerersten Friedensnobelpreis. Seitdem wurde Das Rote Kreuz, noch dreimal ausgezeichnet. Niemand erhielt den Friedensnobelpreis häufiger. © imago | WHA UnitedArchives
    Der israelische Altpräsident Schimon Peres (M., 1923 – 2016) bekam den Preis 1994 als Außenminister gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Izchak Rabin (r., 1922 – 1995) und dem Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat (1929 – 2004) für ihre Bemühungen um ein Ende des Nahost-Konfliktes.
    Der israelische Altpräsident Schimon Peres (M., 1923 – 2016) bekam den Preis 1994 als Außenminister gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten Izchak Rabin (r., 1922 – 1995) und dem Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Jassir Arafat (1929 – 2004) für ihre Bemühungen um ein Ende des Nahost-Konfliktes. © Getty Images | Government Press Office
    Die Vereinten Nationen und ihr damaliger Generalsekretär Kofi Annan erhielten den Preis 2001 „für ihren Einsatz für eine besser organisierte und friedlichere Welt“. Der damalige südkoreanische Außenminister und Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen Uno-Präsident Han Seung-soo (r.) nahm den Preis für die Uno entgegen.
    Die Vereinten Nationen und ihr damaliger Generalsekretär Kofi Annan erhielten den Preis 2001 „für ihren Einsatz für eine besser organisierte und friedlichere Welt“. Der damalige südkoreanische Außenminister und Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen Uno-Präsident Han Seung-soo (r.) nahm den Preis für die Uno entgegen. © REUTERS /
    Die Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai aus Pakistan war erst 17 Jahre alt, als sie 2014 den Friedensnobelpreis bekam. Damit ist sie bis dato die jüngste Preisträgerin in allen Kategorien des Nobelpreises.
    Die Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai aus Pakistan war erst 17 Jahre alt, als sie 2014 den Friedensnobelpreis bekam. Damit ist sie bis dato die jüngste Preisträgerin in allen Kategorien des Nobelpreises. © REUTERS | REUTERS / POOL
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    Nach drei Monaten Chance zur Flucht

    Zu diesem Zeitpunkt wehrt sich Nadia Murad nicht mehr. Sie lässt es über sich ergehen. Auf die Frage, wie sie das ausgehalten habe, sagt sie: „Tausenden Frauen ist geschehen, was mir passiert ist. Das hat mir Kraft gegeben, weil ich wusste, ich bin nicht allein und dass ich nicht im Unrecht bin. Mir war immer bewusst, dass ich mir habe nichts zuschulden kommen lassen.“

    Und das Körperliche? „Man kann sich natürlich nicht vom eigenen Körper trennen, das muss jede Frau durchhalten in der Situation.“ Manche Frauen wurden an 20, 30 Männer weitergereicht. Murad zählte zehn. Doch nach drei Monaten ergab sich eine Chance zur Flucht. „Die Tage davor waren schrecklich. Ich wurde von meinen drei Nichten getrennt, und ich wusste, was ihnen geschehen würde. Sie waren damals 16 und 19 Jahre alt.“ Nur eine Nichte überlebte das Martyrium, zwei wurden getötet.

    Als die Haustür plötzlich offen stand, kein Wächter zu sehen war, lief sie davon. „Ich klopfte in der Nacht an das Haus dieser fremden Familie. Es stand ein bisschen abseits. Es war alles dunkel, und es schien auch keinen Strom zu haben. Das war wichtig, denn ich wusste, alle IS-Anhänger haben Strom.“ Die Familie half ihr. Und das Land Baden-Württemberg. Nadia Murad ist eine von 1100 Frauen und Kindern, die im Rahmen eines Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak von der Landesregierung Baden-Württemberg nach Deutschland geholt wurden. Bis heute lebt sie dort.

    Immer noch werden Tausende Jesidinnen vermisst

    Nach der Flucht beginnt ihr Leben von Neuem. Sie berichtet von den Taten der IS-Terroristen. Erst im Auffanglager, dann erzählt sie Schauspieler George Clooney in Armenien davon, dann einem Anwalt in England, dann Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, 2015 spricht Murad vor den Vereinten Nationen. 2016 wird sie für den Friedensnobelpreis nominiert, inzwischen ist sie UN-Sonderbotschafterin. Und sie hat ein Ziel.

    „Leider stand bislang kein IS-Kämpfer wegen seiner Taten meinem Volk gegenüber vor Gericht.“ Sie möchte, dass die Täter sich vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag verantworten müssen. Aufgrund ihrer Aussagen wurde im September 2017 vom UN-Sicherheitsrat eine Sonderkommission eingesetzt, die den Irak bei den Ermittlungen gegen den IS wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unterstützen soll.

    Nadia Murad verlor 40 Familienmitglieder durch den IS. Immer noch gelten 3000 Jesidinnen als vermisst. Am Ende unseres Gesprächs schreibt sie noch eine Widmung in ihr Buch: „Ich möchte, dass die Menschen erfahren, wie friedlich mein Volk ist, das jesidische Volk.“